: Der gläserne Mensch im Betrieb
Ein Gesetzentwurf öffnet Tür und Tor für genetische Analysen im Betrieb / Nicht die Schadstoffe sollen verringert werden Für jeden Arbeitsplatz der passende Mensch / Noch muß der Bundesrat zustimmen ■ Von Klaus-Peter Görlitzer
Das Dauer-Experiment findet werktäglich statt: Über 100.000 verschiedene Arbeitsstoffe werden in den Betrieben eingesetzt. Doch wie sie auf die Gesundheit der Beschäftigten wirken, ist nur von einem Bruchteil bekannt. Grenzwerte für maximale Konzentrationen in der Luft deutscher Arbeitsplätze gibt es für rund 500 Stoffe – sie gelten als „gefährlich“, sind beispielsweise ätzend, reizend, giftig, sehr giftig, krebserzeugend, fruchtschädigend oder erbgutverändernd; kurz: Sie machen krank.
Arbeiten ist vielerorts riskant. Das weiß auch die Bundesregierung. Anfang November beschloß das Bonner Kabinett deshalb einen Gesetzentwurf über „Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit“. Der Bundesrat, in dem die SPD-Länder die Mehrheit haben, wird am 17. Dezember dazu Stellung nehmen – und, wenn er will, auch Änderungsvorschläge machen.
Anlaß für Verbesserungen gibt es. Denn der Entwurf, der im kommenden Jahr – noch vor der Bundestagswahl – vom Parlament als Gesetz beschlossen werden soll, ist geeignet, Ursache und Wirkung zu verkehren: Geschützt werden nicht die Menschen vor krankmachenden Arbeitsmitteln, sondern die Gefahrstoffe vor den Menschen; der Fahndung nach resistenten Beschäftigten würde Tür und Tor geöffnet.
Unter dem beruhigenden Stichwort „Vorsorgeuntersuchungen“ erlaubt Paragraph 22 des Kabinettsentwurfes zum ersten Mal die Anwendung genetischer Methoden – im vermeintlich exakten Juristendeutsch sind das „Untersuchungen, durch die bestimmte ererbte Veranlagungen für Erkrankungen, die durch die Beschäftigung an einem bestimmten Arbeitsplatz oder mit einer bestimmten Tätigkeit entstehen können, zu ermitteln sind“. Wirksam wird die Erlaubnis, sobald ein noch zu schaffendes Gesetz DNA-Analysen sowie Rechtsverordnungen genetische Untersuchungen „ausdrücklich zulassen“. Mit Hilfe der Gen-Checks sollen nicht die krankmachenden Stoffe abgeschafft werden – sondern jene Beschäftigten, deren Erbanlagen als nicht widerstandsfähig gelten; bei denen, so der Gesetzentwurf, „nach gesicherten Erkenntnissen der Arbeitsmedizin eine schwere bleibende Schädigung möglich ist“.
Wem dies in Folge einer genetischen Vorsorgeuntersuchung vom Betriebsarzt vorausgesagt wird, dem droht künftig ein Beschäftigungsverbot. Zwar muß ihm der Arbeitgeber einen „geeigneten anderen“, also weniger gefährlichen Arbeitsplatz anbieten. Doch gilt dieser Grundsatz nur, „sofern dem nicht dringende betriebliche Gründe entgegenstehen“. Datenschützer wie der bremische Landesbeauftragte Stefan Walz warnen, das geplante Arbeitsschutzrahmengesetz schaffe die „Gefahr einer sozialen Selektion“ zwischen angeblich erbschwachen und erbstarken Arbeitnehmern.
Zwar steht im Gesetzentwurf, genetische Untersuchungen dürften nur durchgeführt werden, nachdem der Betroffene umfassend darüber aufgeklärt worden sei und schriftlich eingewilligt habe. Doch von Freiwilligkeit zu sprechen, meinen Kritiker, sei ziemlich naiv. Schließlich, so Datenschützer Walz, stünden die ArbeitnehmerInnen „in einer schwer einschätzbaren Situation übermächtigen Gegenspielern gegenüber“. Wer würde es in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit denn schon wagen, eine genetische Untersuchung abzulehnen, wenn Arbeitgeber, Personalchef oder Betriebsarzt ihm dies nahelegen? Dieselben Risiken sieht auch der Deutsche Gewerkschaftsbund; er fordert deshalb „ein absolutes Verbot genetischer Analysen im Rahmen arbeitsvertraglicher Beziehungen“.
Liest man den Gesezestext, könnte man meinen, er regele die Anwendung solider wissenschaftlicher Erkenntnisse. Doch das Fundament ist eher wackelig, gegossen vor allem aus Annahmen, Erwartungen und Prognosen – weniger aus nachprüfbaren Fakten. Unter „genetischer Analyse“ verstehen die Gesetzesmacher, so ihre Begründung, sämtliche Praktiken zur „Ermittlung nur eines bestimmten Erbmerkmals“. Sie unterscheiden dabei zwischen molekularbiologischen Methoden, mit denen die menschliche Erbsubstanz unmittelbar untersucht werden kann (DNA-Analyse), und Verfahren wie Chromosomen-, Phänotyp- und proteinchemische Analysen, die Rückschlüsse zulassen sollen auf Struktur oder Funktion von Genen.
Wie fragwürdig die Aussagekraft aller Methoden ist, können die Politiker nachlesen im Endbericht „TA-Projekt Genomanalyse – Chancen und Risiken genetischer Diagnostik“, den das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages (TAB) im September vorgelegt hat. Für den im Vorsorgeparagraphen propagierten Zweck, die Ermittlung anlagebedingter Risikofaktoren, sei der Einsatz von Chromosomenanalysen „problematisch“ – „da diese stets unspezifisch sind und damit nicht im Hinblick auf bestimmte Anfälligkeiten eingesetzt werden können“. Proteinchemische Analysen, die ohne Rechtsgrundlage schon heute in einigen Betrieben eingesetzt werden, sollen im allgemeinen dazu dienen, genetisch bedingte Stoffwechseldefekte nachzuweisen. Solche Verfahren, bei denen Blut und Urin auf veränderte Eiweiße untersucht werden, stünden zur Zeit allerdings erst „für mindestens drei medizinisch relevante Krankheitsbilder“ zur Verfügung, schreiben die TAB-Gutachter in ihrem Bericht.
Die größten Anstrengungen richten Forscher und Industrie aber auf die Entwicklung von DNA-Analysen, auf molekularbiologische Methoden, mit denen Veränderungen einzelner Gene festgestellt werden können. Zwar halten es viele für einen Erfolg, daß mittels DNA-analytischer Methoden immer mehr erblich bedingte Krankheiten nachweisbar seien. Waren es 1986 noch rund 80 Krankheiten, sind es heute schon 738. Aber für die Arbeitsmedizin bringt die DNA-Diagnostik praktisch nichts. „Die Mehrheit der Krankheiten bzw. der Krankheitsdispositionen“, heißt es im TAB- Bericht, „ist jedoch polygen, d.h. durch das Zuammenwirken mehrerer Gene bedingt und durch Umweltfaktoren mit beeinflußt“. Beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft seien aber „ausschließlich monogene Merkmale feststellbar“ – also Veränderungen, die von einem einzigen Gen verursacht worden sind. Erwartungen, wonach durch DNA-Analysen das Auftreten von Allergien verläßlicher vorausgesagt werden könnte, seien denn auch „mit Vorsicht zu beurteilen“, qualitative Verbesserungen durch genetische Tests „kurzfristig schwer vorstellbar“.
Zudem sei bei allen Genomanalyen, mahnen die TAB-Gutachter, ein „zentrales wissenschaftliches wie auch soziales und ethisches Problem“ zu beachten: die unterschiedliche prognostische „Sicherheit“. Voraussagen über erblich bedingte Erkrankungsanfälligkeiten seien „mehr oder weniger ungewiß“. Und: „Selbst wenn eine genetische Anlage auf ein (statistisches) Risiko hinwiese, bedeutet dies nicht, daß die Krankheit im Einzelfall auch wirklich ausbricht.“ Gleichwohl kann die genetische Beurteilung für den einzelnen Arbeitnehmer, wie es im TAB-Bericht heißt, „weitreichende existentielle und psychologische Konsequenzen zeitigen“: Sie reichen vom Verlust des Arbeitsplatzes bis zu schweren psychischen Belastungen.
Gewiß, nur Risiken aus dem TAB-Bericht zu benennen ist einseitig. Der Ausgewogenheit verpflichtet, haben die TAB-Gutachter selbstverständlich auch „Chancen“ zusammengetragen, etwa die folgende: „Betrieblichen Interessen kann durch genetische Tests insofern gedient sein, als festgestellt werden könnte, ob der Arbeitnehmer den Arbeitsplatzanforderungen gewachsen ist und ob er dritte Personen (Kollegen, Kunden) durch genetisch bedingte Fehlleistungen in Gefahr bringen könnte.“ Was eine solche „Chance“ mit dem Schutz vor krankmachenden Arbeitsstoffen zu tun hat, ist indes schwer zu erkennen.
Ohnehin ist es problematisch, „Chancen“ und „Risiken“ beim Einsatz genetischer Analysen in der Arbeitsmedizin gegeneinander aufzurechnen und Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern „fair“ abzuwägen. Denn den Beschäftigten drohen existentielle Risiken. Und wie sie in der Praxis ausgeschlossen werden könnten, ist nicht in Sicht.
Die gesetzgebenden Politiker haben es in der Hand, die Beschäftigten besser zu schützen, indem sie genetische Untersuchungen ebenso verbieten wie krankmachende Arbeitsstoffe.
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