: Der doppelte Palmer
Klassenbester beim Klimaschutz und prosperierende Finanzen: Tübingen unter Boris Palmer könnte als Aushängeschild für ökologisches Wachstum dienen – wären da nicht seine rhetorischen Ausfälle. So bleibt eine tiefe Entfremdung zwischen der lokalen Basis und der grünen Landesspitze.
Von Minh Schredle↓
Zwischen Zitrusfrüchten aus Kalabrien, Kugelschreibern mit Holzverkleidung und Schreibwaren aus Recycling-Papier steht Bruno Gebhart, grünes Urgestein, in seinem Geschäft namens „Der faire Kaufladen“ und erzählt von der langen, bewegten Geschichte der ökologischen Bewegung innerhalb und außerhalb des Tübinger Gemeinderats. Angefangen hat es 1978, als die Bevölkerung gegen eine vierspurige Stadtautobahn auf die Barrikaden ging. Ein Bürgerentscheid hat das Projekt gekippt, im Sommer darauf gründet sich in Tübingen ein grüner Verband, noch bevor sich die Partei im September zum Gründungstreffen in Sindelfingen zusammenfindet.
Im Kleinen wie im Großen ist es ein bunter Haufen: Linke Sozialisten, Friedensbewegte und Feministinnen, Atomkraft-GegnerInnen und dogmatische Kommunisten, aber auch AnthroposophInnen, Wertkonservative und Figuren wie die Bäuerin Dora Flinner, Abtreibungsgegnerin und praktizierende Pietistin, die 1983 als Kandidatin bei der ersten Bundestagswahl nominiert wurde. „Nicht links, nicht rechts, sondern vorn“, lautete damals das Selbstverständnis.
In Gebharts Fall ist unschwer auszumachen, welchem Flügel er sich zuschreiben lässt. Sein Laden soll einer für Leute sein, die sich Gedanken über ihren Konsum machen, mit fair gehandelten und nachhaltigen Produkten. Das Zeitschriftensortiment prägen linke Publikationen wie die „konkret“ oder der Atlas der Globalisierung von „Le Monde diplomatique“. Auch das taz-Magazin „Futurzwei“ liegt aus, mit Boris Palmer auf dem Cover.
„Wissen Sie, jeder Mensch hat zwei Seiten“, sagt Gebhart. Natürlich gebe es Reibereien mit dem Oberbürgermeister, gerade wenn man glaubt, dass nicht einmal grüne Projekte bis ins Unendliche wachsen können und man eine Wirtschaftsordnung will, die auch den ärmeren Weltregionen wohltut. „Aber bei der kommunalpolitischen Arbeit muss ich sagen, dass Palmer trotz aller Differenzen gut abschneidet.“
Mit ein paar Unterbrechungen sitzt Gebhart nun seit drei Jahrzehnten im Gemeinderat. „Früher gab es da mit Grünen, SPD und KPD hauchzarte Mehrheiten“, sagt er, heutige Vorzeigeprojekte wie das Französische Viertel oder die verkehrsberuhigte Stadt wären mit einer Stimme weniger gescheitert.
Heute entscheidet das Gremium meistens geschlossen. Überregionale Aufmerksamkeit bekommt Palmer zwar meistens durch Kontroversen. In der Stadtpolitik, lobt Gebhart, sei er aber einer, der vermitteln könne und Kompromisse finde. Der durchaus ambitionierte Zielbeschluss etwa, dass Tübingen bis 2030 CO2-neutral werden soll, kam ohne Gegenstimme und mit nur einer Enthaltung durch.
Auch Freunde finden seine Äußerungen schrecklich
Bei Gebhart scheint auf, dass viele Grüne in Tübingen sehr unglücklich damit sind, wie sich das Verhältnis zwischen dem Oberbürgermeister und seiner Partei entwickelt hat. Einer, der als Mitglied Wahlkampf für einen macht, den die Landesspitze am liebsten rauswerfen will, ist Christoph Melchers, Architekt und Nachbar von Boris Palmer. Er gehört zu den InitiatorInnen der Unterstützungskampagne für die Wahl im Herbst. „Sogar seine besten Freunde finden es gelegentlich schrecklich, wie er sich äußert“, räumt Melchers gleich zu Beginn des Gesprächs ein, an dem auch Maria Avramenko teilnimmt: 27 Jahre alt und Pharmazie-Studentin. „Es sind nämlich nicht nur alte, weiße Männer, die Boris gut finden“, sagt Melchers grinsend.
Gut 1.000 Wahlberechtigte haben den Aufruf der Initiative unterzeichnet, was für den Amtsinhaber nach eigenen Angaben ein entscheidender Grund war, noch einmal antreten zu wollen. In wenigen Tagen sind für seinen Wahlkampf 120.000 Euro Spendengeld zusammengekommen, wobei um die 80 Prozent von der Facebook-Gemeinde stammen sollen.
„Ich kenne ihn jetzt seit etwa 25 Jahren“, sagt Melchers über Palmer. „Ein Ausländerfeind ist er ganz sicher nicht.“ Immerhin habe er sich gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit darum bemüht, dass Tübingen eine Partnerstadt in Tansania bekommt. Avramenko ist parteipolitisch ungebunden und schätzt die unverstellte Art von Palmer, „das gibt es ja nicht mehr oft, so straight und direkt“. Vor vier Jahren ist sie nach Tübingen gezogen und will hier noch lange bleiben. Vor allem die Mobilität begeistert sie: „Hier kann man an Samstagen kostenlos Bus fahren. Wo gibt es denn so was?“
Doch neben glühenden Fans gibt es auch solche, die genervt sind von Palmer. Die darauf hinweisen, dass hinter erfolgreichen Projekten in einer Kommune nicht nur der Oberbürgermeister steht, ihn sicher nicht für unentbehrlich halten und den Personenkult um ihn belächeln. Insbesondere im links-alternativen Milieu ist er eine regelrechte Hassfigur. Unter anderem der „Tagesspiegel“ erklärt ihn sogar zum „Sarrazin der Grünen“.
„So weit ich sehen kann“, sagt Palmer gewohnt selbstbewusst, „werfen mir nicht mal die schärfsten innerparteilichen Kritiker vor, dass ich im Amt – in der Tat – Fehler mache.“ Er verweist auf zwei Tübinger Spitzenplätze: als die Stadt in Baden-Württemberg, in der die CO2-Bilanz am schnellsten sinkt und die Wirtschaft am schnellsten wächst. Es sei allgemein anerkannt, dass er das grüne Programm verwirkliche, sagt er. „Es geht also um die Differenz von Wort und Tat. Mir wird vorgeworfen, dass die Form der öffentlichen Äußerung, die ich wähle, inakzeptabel sei. Es geht letztlich um die Fragen von political correctness und Identitätspolitik: Was kann man noch sagen? Was darf man sagen? – Da ist der Konflikt entstanden.“
Der Rausschmiss war schnell beschlossene Sache
Er sorgt sich um freie Debattenräume, aber gehört wird er wie kaum ein anderer: Wahrscheinlich gibt es keinen Bürgermeister in Deutschland mit vergleichbarer Prominenz und Reichweite. „Aber wir müssen da unterscheiden zwischen einer normalen inhaltlichen Debatte – die läuft leider mit geringer Wahrnehmung im Hintergrund – und den Empörungswellen.“ Dass er „in bestimmten Situationen nicht die angemessene Wortwahl“ trifft, „die Kritik nehme ich an.“ „Aber was ich für notwendig halte, sage ich auch“, und zwar mit einem trotzigen Stolz.
Was die einen tragbar finden, ist für andere unerträglich. Etwa als Palmer es für notwendig hielt, sich kurz vor der grünen Landesdelegiertenversammlung im Mai 2021 öffentlich über die Hautfarbe des Sexualorgans eines Fußballstars zu äußern und dafür die am wenigsten würdevolle Wortwahl wählte.
„Das Maß ist voll“, ärgerten sich Oliver Hildenbrand und Sandra Detzer, die damaligen Landesvorsitzenden von Palmers Partei. Zwei, die für einen ganz anderen Kommunikationsstil stehen, einen solchen nämlich, der die Grünen als „mutige Kraft für ein gutes Morgen“ ausweist. Für jemanden, der mit Rassismus kokettiere und Ressentiments schüre, sei bei den Grünen kein Platz, begründeten sie. Und die Delegierten stimmten, ohne größere Diskussion, einem spontan eingebrachten Antrag zu, gegen den degoutanten Provokateur einen Parteiausschluss anzustrengen.
In Tübingen wird die Entfremdung zwischen der regionalen Basis und der Parteispitze deutlich. In einer von Palmer selbst beauftragten, aber repräsentativen Umfrage gaben 86 Prozent der grünen Klientel an, zufrieden mit der Arbeit ihres Oberbürgermeisters zu sein.
Doppelte Standards sind erlaubt, findet Palmer
Wen die Grünen gegen ihn ins Rennen schicken werden, ist noch nicht endgültig gewiss. Bisher gibt es nur eine, die will: Ulrike Baumgärtner, in der Kommunalpolitik fest verwurzelt, bei drei der letzten vier Gemeinderatswahlen die Tübinger Stimmenkönigin, Ortsvorsteherin vom Teilort Weilheim und grüne Fraktionsvorsitzende im Kreistag. Auf ihrer Website hebt sie hervor: „Ich wäre die erste weibliche OB-Kandidatin der Grünen und Alternativen.“ Gesprächsanfragen von Kontext blieben unbeantwortet.
Wenn es mit seiner Wiederwahl nicht klappt, ist die politische Figur Boris Palmer Geschichte, sagt er über sich selbst. Den Ärger haben insbesondere Äußerungen zur Migrationspolitik auf sich gezogen, zum Beispiel als ihn ein Radfahrer ungestüm angerempelt hat: „Ich wette, dass es ein Asylbewerber war. So benimmt sich niemand, der hier aufgewachsen ist“, gab er damals zu Protokoll und beharrte darauf, mit Wetten dieser Art eigentlich immer richtig zu liegen.
Das ist die eine Seite von Boris Palmer: der saubere und fleißige Deutsche, der ausländische Nichtsnutze maßregelt und in seinem Buch „Wir können nicht allen helfen“ formuliert: „Wir müssen von Asylbewerbern nicht erwarten, dass sie sich gesetzestreuer als deutsche Staatsbürger verhalten. Wir dürfen es aber.“
Auf der anderen Seite steht in Tübingen eine dezentrale Unterbringung von Geflüchteten, die zum besten zählt, was Baden-Württemberg den Schutzsuchenden zu bieten hat, für die ordentlich Geld in die Hand genommen wurde, um Neubauten zu schaffen, statt die Menschen in kasernenartigen Sammelunterkünften an den Stadtrand zu verfrachten. Und ein städtisches Programm, das die Kosten für das erste Jahr der Ausbildung übernimmt, wo Betriebe ansonsten zu skeptisch wären, ob sich das Geschäft für sie rentieren würde.
„Parteitage als Inszenierungsveranstaltungen“
Die Differenz von Wort und Tat ist auch das Leitmotiv von Rezzo Schlauchs Verteidigungsschrift. Der Alt-Grüne vertritt Palmer im Streit gegen die eigene Partei, die in einer Identitätskrise steckt, weil sie Vielfalt verkörpern will, aber Geschlossenheit signalisieren muss.
Schlauch wählt auf 55 Seiten die Form des Frontalangriffs: Wo der grüne Protest gegen die autoritär „formierte Gesellschaft“ der 1950er- und 1960er-Jahre in der Gründungsphase das „politisch breitest denkbare Spektrum“ zusammenführte, verkämen Parteitage heute „mehr und mehr zu Inszenierungsveranstaltungen“, mit einer „neuen Unkultur der Verhinderung von Diskussionen“, die Kontroversen scheut.
Dass Palmer Flüchtlingsströme begrenzen will, sei ebenso richtig wie, „dass die Partei Bündnis 90/Die Grünen dieser Auffassung mehrheitlich immer entgegengetreten ist.“ Aber diese Ablehnung habe es nicht geschafft, die Realität zu überwinden. Überall, wo Grüne mitregieren, wird eifrig abgeschoben und der freie Zugang für Menschen mit dem falschen Pass blockiert. Schlauch fragt frei nach Brecht: „Was ist schlimmer? Ein Gesetz zu fordern oder ein Gesetz zu machen?“
Den Unterschied macht, dass sich Palmer offen zu einer Praxis bekennt, über die viele ParteifreundInnen nur ungern reden, die sie aber auch nicht vom Regieren und Gestalten abhält.
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