Der die Rote Fahne auf dem Reichstag knipste: Das Auge der Geschichte
Der Krieg im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Im Berliner Martin-Gropius-Bau wird ein großer sowjetischen Fotograf vorgestellt - Jewgeni Chaldej.
Die Kamera ist das Auge der Geschichte. Das zentrale Medium, über das der Zweite Weltkrieg erinnert wird, ist das schwarz-weiße Foto und sein Doppelcharakter: Authentizität und Dokumentation eines historisch konkreten Augenblicks sind untrennbar vermengt mit Inszenierung, Kalkül und der Überhöhung mit dem Ziel einer allgemeinen Aussage. Triumphal flattert die von einem Soldaten gehisste Fahne mit Stern, Hammer und Sichel hoch auf dem Berliner Reichstag über dem ruinierten Berlin, während am Horizont der Geschichte schicksalsschwere Rauchschwaden dräuen.
Es ist das symbolträchtigste Siegesfoto des Zweiten Weltkrieges, eines der meistgedruckten Motiv der Fotogeschichte überhaupt. Susan Sontag ist in ihrem Kriegsfotografie-Essay "Das Leiden anderer betrachten" ja der Meinung, dass die Geschichte hinter diesem Foto davon handelt, dass "diese Heldentat überhaupt nur für die Kamera vollbracht wurde", und die "Montage der Wahrheit", die Inszenierung und Manipulation zwecks höhere Dramatisierung und Verstärkung emotionaler Wirkung sind hinlänglich bekannt. Dennoch ist es ein Bild, das sich tief in das kollektive Bildgedächtnis eingeschrieben hat. Der Fotograf Jewgeni Chaldej ist hinter seinem Artefakt fast verschwunden, obwohl er zu den bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts gehört, der mit Begriffen wie Propaganda und Heroische Moderne nicht zu fassen ist.
Im Berliner Martin-Gropius-Bau ist nun dem Künstler eine weltweit erste Retrospektive mit über 200 Originalaufnahmen gewidmet und von Ernst Volland, dem "Entdecker" Chaldejs auf deutscher Seite, überwiegend aus eigenen Beständen bestückt worden. Die Ausstellungsmacher nennen Chaldej wohlmeinend den "russischen Robert Capa" und vergleichen ihn mit Cartier-Bresson, aber Chaldej bedarf keiner Aufwertung durch einen derartigen Vergleich - sein Werk ist in seiner Komplexität einmalig.
Jewgeni Chaldej kam 1917 in der Ukraine als Sohn einer traditionellen jüdischen Familie zu Welt. Die Mutter wurde ein Jahr später während eines Pogroms ermordet. Vielleicht lassen sich über diese frühen Leiderfahrungen Chaldejs extrem affektive Bindungen an Fotos erklären - im Alter von zwölf Jahren bastelte er sich eine Kamera, hielt seine Umgebung fest. 1936 wurde er Fotokorrespondent der Nachrichtenagentur TASS. Ab 1941 war er offizieller Kriegsfotograf und damit Teil von mehr als 200 Fotojournalisten, die den "Großen Vaterländischen Krieg" im Bild festhielten und an einer kollektiven Fotochronik arbeiteten. Aufgabe war dabei nicht nur die Dokumentation, sondern auch die Festigung der Kampfbereitschaft und die Stärkung der Solidarität zwischen Armee und Bevölkerung.
Die sowjetische Kriegsfotografie wurde lange Zeit als staatlich gelenkte Propaganda gesehen. Aber wie die hervorragende Fotoreihe des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst beweist, verstanden sich die besten Fotografen oft weniger als Propagandisten denn als Chronisten, die Menschen im Krieg und dessen Folgen zeigen. Die russische Kriegsfotografie lässt zwar einen Kanon der vorgeschriebenen, immer wiederkehrenden Motive erkennen: das Kampfgeschehen (der Angriff), "Heldenkonstruktion", der Alltag an der Front, kriegsbedingte Zerstörungen, die Verlierer und die Sieger und schließlich die Schlacht um Berlin und die Siegesfeier in Moskau - aber in den besten Aufnahmen zeigt sich jenseits des Genre-Begriffs doch eine jeweils eigene Handschrift.
Chaldej begleitete die Rote Armee von der Nordfront um Murmansk bis zur Südfront am Schwarzen Meer, und er nahm an der Eroberung von Sofia, Budapest, Belgrad und Wien teil. 1941/42 erfuhr er von der Ermordung seines Vaters und dreier Schwestern durch deutsche Einsatztruppen. Ende April 1945 wurde Chaldej nach Berlin abkommandiert. Danach war er für die TASS der offizielle Fotograf während der Potsdamer Konferenz und ein Jahr später bei den Nürnberger Prozessen.
Die antisemitische Politik Stalins führte 1948 dazu, dass Chaldej wegen "Unprofessionalität" entlassen wurde. Es folgten Gelegenheitsjobs, bis er von 1956 bis 1972 Mitarbeiter der Prawda und danach der Sowjetskaja Kultura war. 1996 starb der Meisterfotograf unter sehr bescheidenen Verhältnissen und mit einem Testament von ungefähr 10.000 Negativen in Moskau.
Die Vor- und Nachkriegsbilder Chaldejs sind teilweise an der avantgardistischen Ästhetik der 1920er-Jahre orientierte, effektive, zeitgeschichtlich höchst wertvolle Aufnahmen voller Optimismus, Pathos und Lyrizismus (für den heutigen Blick mit dem Wissen um Zwangsarbeit und Gulag manchmal das Aberwitzige streifend). Schwerpunkt der Ausstellung bilden aber natürlich die Kriegsaufnahmen. Bereits das erste Kriegsfoto ist eine Ikone: Es zeigt Moskauer, die am 22. Juni 1941 auf der Straße bang und fassungslos der Rede Molotows zum deutschen Überfall lauschen.
Es gibt hier kaum ein Bild, das sich, selbst nach flüchtigem Betrachten, nicht tief in die Erinnerung eingräbt. Soldaten, die durch die weiße Nacht in ein ungewisses Schicksal schreiten, eine alte Frau, die sich in Murmansk über verbrannte Erde schleppt, der Selbstmord eines Wiener Nazis, die erschütternden Ansichten aus dem Budapester Getto. Es ist eine unerträgliche, riesige Anhäufung von Waffen, Leichen, Trümmern, Leiden und Zerstörung; aber inmitten des Wahnsinns gibt es anrührende Augenblicke, wo sich vor dem mitfühlenden Objektiv Chaldejs Geschichtliches und Privates kreuzen: das Bild des deutschen Blinden und seines Begleiters, die in der Französischen Straße in Berlin wahrhaft am Ende der Welt angekommen sind, und dann ist da ein lapidar betiteltes Bild "Jüdisches Paar". Ein Mann und eine Frau, 1945 im Getto von Budapest, sie tragen noch den Judenstern und können noch nicht begreifen, dass der Krieg für sie zu Ende ist. Nachdem Chaldej sie fotografiert hatte, riss er ihnen mit den Worten: "Die Faschisten sind geschlagen!" den gelben Stern von den Mänteln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!