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Der deutsche Krieg in AfghanistanDie verweigerte Analyse

Kommentar von Christian Semler

Erst diente der Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für die deutsche Präsenz in Afghanistan. Doch nun ist die Verbindung zwischen Militär und zivilem Aufbau endgültig gerissen.

Propagandistisch winkt die Bundesregierung mit dem Abzug, um sich in der Praxis der bisherigen amerikanischen Durchhaltestrategie anzuschließen. Bild: rtr

E rleichtertes Aufatmen? Endlich ein fester Termin für den Abzug des deutschen Kontingents aus Afghanistan? Nach dem Willen der Bundesregierung sollen 2011 die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass 2011/12 mit dem Abzug begonnen und er 2014 beendet wird. Aber dieser scheinbar so klare Terminplan steht unter Vorbehalt.

Im "Fortschrittsbericht" der Bundesregierung heißt es, die Regierung "beabsichtigt, einzelne, nicht mehr benötigte Fähigkeiten, soweit die Lage dies erlaubt, ab Ende 2011/12 zu reduzieren". Diese nebulöse Formel ermöglicht es, die Gegner der Intervention, also die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung, zu beruhigen und gleichzeitig das Ende des Einsatzes völlig offenzuhalten.

Jahrelang galt jeder, der das Wort "Exit" in den Mund nahm, den Verantwortlichen in Afghanistan als Verräter. Erst dienten der Schutz der Menschenrechte und die Hilfe beim "Nation building" als Legitimation für die deutsche Präsenz. Von diesen hehren Zielen war nach einigen Jahren nicht mehr die Rede. Es ging nur noch darum, "stabile Verhältnisse" in der Region zu schaffen. Aber in welchen Zeitraum? Erst war von dreißig, dann von fünfzehn Jahren die Rede. Jetzt also sollen vier Jahre reichen. Und dann: Präsident Karsai, übernehmen Sie!

Doch wie es aussieht, führt kein Weg dahin. Für das dritte Quartal des Jahres 2010 werden 9.031 Angriffe der Taliban-Streitkräfte gemeldet, 59 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2009. In Teilen des deutschen Operationsgebietes im Norden Afganistans läuft ein Guerillakrieg, in fünf der sieben Distrikte der Provinz Kundus, die als vollständig befriedet galt, üben die Taliban die Kontrolle aus.

Dabei sollte das Jahr 2010 die große Wende bringen. Die USA schwangen den Befehlsstab und Präsident Obama verkündete eine neue Strategie, der nach Täuschung der Deutschen sich im Februar 2010 die übrigen Nato-Staaten anschlossen. Kernpunkt war die Counter-Insurgency-Strategie (Coin). Mit einem verstärkten Truppeneinsatz sollten bislang von den Taliban gehaltene Gebiete besetzt und von feindlichen Streitkräften gesäubert werden. Fortdauernde Truppenpräsenz sollte die Bevölkerung schützen und durch zivil-militärische Aufbauarbeit sollte ihr Vertrauen gewonnen werden.

Dass Coin trotz einer Reihe von Anfangserfolgen erfolglos blieb, war vorhersehbar. Für eine effektive militärische Kontrolle war die Interventionsarmee viel zu schwach. Und die Mehrheit der "befreiten" afghanischen Bevölkerung war teils abgestoßen von den kriminellen Methoden der alliierten Kriegsführung, teils eingeschüchtert durch den Terror der Taliban. Für das deutsche Kontingent aber galt, dass es von einer defensiv operierenden Schutztruppe zum Bestandteil einer Armee der offensiven Aufstandsbekämpfung wurde. Es war damit verstärkt den Schlägen der Taliban ausgesetzt.

Die Bundesregierung tut ihr Bestes, um der deutschen Bevölkerung vorzutäuschen, sie habe klare Vorstellungen von den Zielen der Afghanistan-Intervention und ein realistisches Bild von den Bedingungen des Rückzugs. Das Gegenteil ist der Fall. Weder die rot-grüne noch die schwarz-gelbe Koalition haben je den Versuch unternommen, eine ungeschminkte Analyse der Lage in Afghanistan vorzunehmen und, auf ihr basierend, ein klares Ziel ihrer Intervention zu benennen. Wie sollen sie aussehen, die "stabilen Verhältnisse", und wann ist Stabilität erreicht?

Zwar wurde in der Propaganda stets die Bedeutung des zivilen Aufbaus hervorgehoben, tatsächlich aber genoss das Militär immer absoluten Vorrang. Das zeigte sich auch in der Verteilung der Mittel. Mit dem Übergang zur Aufstandsbekämpfung im Jahr 2010 ist die Verbindung zwischen Militär und zivilem Aufbau endgültig gerissen.

Bleibt das Argument, das Schlimmste, eine erneute Machtergreifung der Taliban, müsse verhindert werden. Das aber setzt Einsicht in die Realität, sprich Verhandlungen unter Einschluss der Taliban voraus. Die Bundesrepublik verschließt sich dieser Einsicht. Propagandistisch winkt sie mit dem Abzug, um sich in der Praxis der bisherigen amerikanischen Durchhaltestrategie anzuschließen.

Kann sie dieses Täuschungsmanöver gegenüber der eigenen Bevölkerung auch 2011 durchhalten? Kann sie Afghanistan aus den vielen kommenden innerdeutschen Wahlkämpfen heraushalten? Daran ist zu zweifeln.

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6 Kommentare

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  • S
    Stephanie

    "Kann sie dieses Täuschungsmanöver gegenüber der eigenen Bevölkerung auch 2011 durchhalten?"

     

    Wieso denn nicht?

    Wenn es den Wählern bisher scheißegal war,

     

    (obwohl sie natürlich angeblich dagegen sind, aber wogegen sind die laut Umfrage nicht alles; laut Umfragen will ja auch keiner Atomkraft oder die Kopfpauschale. Die Wahlergebnisse spiegeln das bloß nicht wieder)

     

    warum sollten sie dann 2011 plötzlich was darauf geben, ob Deutschland sich an Kriegen beteiligt?

    Tun sie nicht. Die trinken in Ruhe ihren Kaffee, während das Wikileaksvideo im Fernsehen läuft.

  • K
    KFR

    .. interessant dürften die Rechtfertigungen sein, warum Deutschland nicht alternative Konzepte durchgezogen hat und sich wie so oft in Treue, wider besseres Wissen mitgespielt und gezahlt hat.

  • B
    bnrd

    warum dürfen wie nie etwas von zivilen opfern sehen liebe taz?

  • MM
    Michael Milbradt

    Leider fehlt in dem Artikel ein Hinweis auf die dort Toten. Angesichts des Beklagens von Menschenleben auf Seiten Deutschlands - wie im Krieg - stellt sich die für manche vielleicht neue, aber für jeden denkenden Menschen logische Frage eines Austritts Deutschlands aus der NATO.

  • S
    Stimmvieh

    Im Rückblick sieht man so etwas natürlich immer klarer, aber die Haltung, mit der die NATO 2001 in Afghanistan einmarschiert ist, war ausgesprochen naiv, jedenfalls, das, was man der Öffentlichkeit erzählt hat: Wir gehen dahin, bekämpfen die Terroristen, helfen das Land wieder aufzubauen, und die Bevölkerung wird sich vor lauter Freude in einen Haufen überzeugter Demokraten verwandeln, und dann wird alles gut.

    Dabei war eigentlich schon vor Jahren klar, dass die Lage in Afghanistan nicht signifikant besser wird, und dass die NATO-Mitglieder keine Vorstellung haben, was sie in Afghanistan erreichen wollen.

    Dann versteckt man sich halt hinter hohlen Phrasen von der Sicherheit Deutschlands, die jetzt eben auch am Hindukusch verteidigt werde und ähnlichem Stuss.

     

    Im Prinzip, das ist das eigentlich Ärgerliche am Verhalten unserer Regierung, ist es den Menschen in Afghanistan ja zu wünschen, endlich wieder in Frieden leben zu können. Aber ein Verbleib der NATO in Afghanistan, der mit weiteren Toten auf allen Seiten einher geht, ist nur zu rechtfertigen, wenn die NATO einen realistischen Plan hat, wie sie das Land befrieden könnte, und den Eindruck habe ich seit Jahren nicht mehr.

    Entweder weigert sich die Regierung, ihr Scheitern in Afghanistan einzugestehen, oder sie verfolgt insgeheim andere Ziele als die, die der Öffentlichkeit vorgekaut werden.

  • K
    Klingelhella

    Vielen Dank für die klaren Worte; dem ist nicht viel hinzuzufügen.