: Der blutige Kampf gegen Fatsa und die Dev Yol
Als in der vergangenen Woche die Urteile in dem Massenprozeß gegen 811 BewohnerInnen der türkischen Kleinstadt Fatsa fielen, regneten rote Nelken auf die Angeklagten / Angeklagt und verurteilt wegen des Versuchs eines sozialistischen Modells ■ Von C. Göllücü und Ö. Erzern
Erzincan/Istanbul (taz) - „Ich trauere nicht darum, daß ich hinter Betonwände und Eisengitter gezwängt wurde. Ich habe immer wieder gesagt, daß ich mein Vaterland liebe. Deshalb habe ich gekämpft, bin gefoltert und ins Zuchthaus gesteckt worden. Wenn in einem Land Personen an der Macht sind, für die das Vaterland aus Schweizer Bankkonten und US-Dollars besteht, ist es kein Wunder, daß die Patrioten hingerichtet werden.“
Der Mann, der sich so vor dem Kriegsgericht Erzincan in einem der größten politischen Massenprozesse nach dem Militärputsch verteidigte, lebt nicht mehr. Fikri Sönmez, vor dem Putsch Bürgermeister der Kleinstadt Fatsa, seit Juli 1980 verhaftet, starb nach fünfeinhalbjähriger Untersuchungshaft am 4.Mai 1985. So fehlte der Hauptangeklagte in dem Prozeß gegen die Regionalorganisation Fatsa der linken Gruppe „Dev Yol“, der am Mittwoch vergangener Woche zu Ende ging. 15 weitere Angeklagte fehlten in dem politischen Massenprozeß. Auch sie waren während der Haft gestorben. Angeklagt war fast die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung Fatsa, insgesamt 811 Menschen. Acht Angeklagte wurden zum Tode, 14 zu lebenslanger Freiheitsstrafe, 307 zu Haftstrafen zwischen einem und zwanzig Jahren verurteilt. 434 Menschen wurden freigesprochen.
Die Angeklagten weigern sich bei der Urteilsverkündung in einem Bau des Militärgefängnisses Erzincan aufzustehen. Nach der Urteilsverkündung klettern sie auf die Bänke und erheben die linke Faust. Parolen werden skandiert: „Unser Kampf wird weitergehen“, „Nieder mit dem Faschismus“, „Fikri Sönmez wird weiterleben“. Rote Nelken, die die rund 150 Besucher mitgebracht haben, regnen auf die Angeklagten nieder. Der vorsitzende Richter, ein Offizier ohne juristische Ausbildung, bleibt apathisch. Kein Wort, kein Befehl an die bewaffneten Soldaten im Saal, Ruhe und Ordnung zu schaffen. Eher Erleichterung. Der Fall Fatsa ist mit acht Todesurteilen und hohen Haftstrafen nach einigen juristischen Pannen zu Ende.
Fatsa als gesellschaftliches Modell wurde jedoch schon früher und mit anderen Methoden als durch das Urteil vergangener Woche beendet. Durch Massenverhaftungen - ein Drittel der Einwohner wurden nach dem Putsch 1980 verhaftet
-durch Hunderte von Folteropfern während der jahrelangen Untersuchungshaft, durch Verfolgung und Terror. Der Prozeß, der nach acht Jahren zu Ende ging, war da fast nur Beiwerk. 53 Angeklagte befanden sich zum Schluß noch in Haft. Sie waren es, die zum Tode, zu lebenslänglich sowie zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Die Mehrheit der restlichen Angeklagten war erst gar nicht zum Prozeß erschienen. Für sie gab es Freisprüche und Haftstrafen, die durch die jahrelange U-Haft abgegolten war. Nur die Denunzianten, die auf Strafmilderung hofften, von den übrigen Angeklagten durch ein zwei Meter hohes Gitter und 40 Soldaten abgeschirmt, waren allesamt erschienen.
Verurteilt wurde aufgrund der Artikel 146 und 168 des Strafgesetzbuches - „Versuch, gewaltsam die Verfassung zu ändern und Bildung einer Bewaffneten Bande“. Konkrete Gewaltakte der Angeklagten konnten vom Gericht nicht nachgewiesen werden. Mitgliedschaft in der linken Organisation Dev Yol und politische Arbeit genügte für den Nachweis des Verbrechens, die Verfassung umzustürzen.
Fatsa war nach der Wahl des unabhängigen Kandidaten Fikri Sönmez im Jahre 1979 zum politischen Symbol geworden. Basisdemokratisch wurde über kommunale Fragen beschlossen. Stadtteilkomitees bestimmten über die Finanzen der Kommune. Über jeden Groschen wurde Rechenschaft abgelegt. In der linken und linksliberalen Presse erschienen ganze Serien über das „Modell“ Fatsa. „Klein-Moskau“ wurde Fatsa in der faschistischen Presse genannt. Der Bürgermeister versuchte, die zahlreichen Kleinproduzenten von Haselnüssen in der kleinen Stadt Fatsa gegen den staatlichen Marktmonopolisten zu organisieren. „Schluß mit der Ausbeutung beim Aufkauf von Haselnüssen“, hieß es.
Die Militäroperation gegen Fatsa im Juli 1980, an der sich auch paramilitärisch ausgebildete Faschisten beteiligten, war der Vorbote des Militärputsches. Tausende Einwohner wurden verhaftet, der Bürgermeister mit Elektroschocks gefoltert. Die Herrschenden hatten seine Arbeit unter den Haselnußproduzenten nicht vergessen. Stundenlang mußte er nackt über aufgebrochene Haselnußschalen laufen, bis seine Fußsohlen blutig aufplatzten. Nachzulesen ist das in den Gerichtsprotokollen. Nach dem Putsch nahm der Terror in der Stadt, wo schon jeder Dritte im Militärgefängnis saß, noch zu. Das Modell „Fatsa“ existierte nicht mehr.
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