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Der andere Blick auf das despotische Haiti

■ Im Kino: „Der Mann auf dem Quai“ von Raoul Peck

Zur Zeit sieht man jeden Tag aktuelle Fernsehbilder aus Haiti, aber bei all den Liveaufnahmen und möglichst kurz gefaßten Expertenmeinungen bleibt der Eindruck wie immer bei solchen Medienspektakeln wieder sehr oberflächlich. Das Bremer Kommunalkino zeigt mit perfektem Timing in dieser Woche einen Film des haitianischen Regisseurs Raoul Peck, der einen anderen und tieferen Blick darauf ermöglicht, wie das despotische System auf dieser Insel funktionierte.

In „L'homme sur les quais“ erzählt eine Frau von ihrer Kindheit auf Haiti in den 60er Jahren. Der Film beginnt mit Bildern von der achtjährigen Sarah, die auf dem Dachboden mit Puppen spielt, dann auf den Balkon tritt und beobachtet, wie ihr Patenonkel von Militärs gefoltert wird, während ihr Vater als Offizier hilflos danebensteht. Der Film folgt den nicht immer chronologischen und manchmal traumhaft diffusen Erinnerungen der kleinen Sarah, und mit diesem Kunstgriff zieht Peck den Zuschauer sehr nah in dieses Leben hinein. Sarah versteht wenig, aber sie sieht viel: Ihr Pate irrt nach der Folterung als närrischer Bettler durch die Straßen, sein Folterer wird zum mächtigen „tonton macute“, zum Kommandanten eines Todesschwadrons; ihre Eltern müssen ins Exil, und Sarah ist ihnen böse, weil sie sie verlassen haben. Es gelingt Peck in vielen Szenen, die unterschwellige Angst und die Willkür der Herrschenden spürbar zu machen. Man merkt, daß reale Erfahrungen hinter diesen Bildern stecken – Pecks Stil ist naturalistisch, kunstlos; er kommt fast ganz ohne brutale Gewaltszenen aus. Er zeigt, wie Soldaten auf den Straßen mit Passanten umgehen oder Männer schweigend miteinander trinken, und in diesen unterschwellig bedrohlichen Szenen spürt man die Ohnmacht der Beherrschten deutlicher als bei den gezeigten Verhaftungen oder offenen Demütigungen. Pecks Stärke liegt in der genauen Inszenierung solcher Szenen mit den feinen Nuancen des Alltags.

Aber immer, wenn Peck die realistische Geschichte zur Parabel überhöhen will, verliert der Film an Glaubwürdigkeit. Die Großmutter, bei der Sarah nach der Flucht ihrer Eltern Unterschlupf findet, entwickelt sich zu einer allzu heldenhaften Mutter Courage, die mit ihren Taten zwei hilfsbereite Männer in den Tod schickt, sich mit der Gattin des Kommandanten über ein Paar Schuhe streitet und dafür verhaftet wird. Der Kommandant als ihr Gegenpol ist ein Schurke, wie er im Buche steht. Er nimmt immer dämonischere Züge an, und der Film endet dann auch mit einem typischen Hollywood-show-down. Dennoch beklagte sich Peck: „In Cannes gab es Zuschauer, die bei Janviers Tod applaudierten. Sie beklatschten den Tod des Bösewichts, das ist klassisch. Ich spreche jedoch weder von Bösen noch von Guten, ich zeige einen Mechanismus auf. Diese Leute täuschten sich.“ Irrtum – Peck selbst hat sich hier verkalkuliert, und mit solchen Fehlern mindert er die Wirkung der vielen so gelungenen Szenen des Films.

Wilfried Hippen

Kino 46, Do. -Sa. 20.30 Uhr, So. - Di. 18.30 Uhr, Waller Heerstr.46

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