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Der abgeschlossene RomanUnglückliche Auster

■ Wir erzählen weiter, wo der Klappentext endet. Heute: Pferdeflüstern

Kein Mensch hat heutzutage noch Zeit, ein Buch zu lesen. Selbst Bibliophile kommen selten über den Klappentext hinaus. Wir schaffen jetzt Abhilfe. Und erzählen dort weiter, wo der Klappentext aufhört. Den ganzen Roman. Bis zum Ende.

Der Tod kommt an einem Frühlingstag: Simon Mahler, siebzehn Jahre jung, strahlender Mittelpunkt seiner Familie, fällt vom Pferd und ist auf der Stelle tot. Nora, Simons Mutter, droht, den Verstand zu verlieren. Neal, der Vater, erschießt das Todespferd und tötet damit einen Teil von Nora, die seit frühester Kindheit eine tiefe Bindung an ihre Pferde hat. Clea, Simons Schwester, zieht sich völlig in sich zurück. Ehe und Familie zerfallen. Doch der Tod legt nur frei, was unter der Oberfläche schwelte. Neal steht der Zuneigung seiner Frau für ihre Pferde verständnislos gegenüber.

Als Neal dann von seiner Gattin Nora schließlich drei Tage hintereinander überbackene Pferdeäpfel zum Nachtisch gereicht bekam, die sie nur mit einem Westernsattel bekleidet splitternackt servierte, platzte ihm das Halfter. Frustriert reichte er die Scheidung ein und gründete aus Rache eine Fast-Food-Kette, die sich auf den Vertrieb von extradicken Pferdewürsten spezialisierte.

Die zahlreichen männlichen Mitglieder der Selbsthilfegruppe „Hilfe, meine Frau liebt ein Pferd“ verlegten daraufhin spontan ihre wöchentlichen Therapiesitzungen in Neals Schnell-Restaurants. Neal wurde stinkreich und bezahlte von dem Geld lebenslang eine Verhaltenstherapie für seine heftig traumatisierte Tochter Clea. Die nämlich hatte sich nach dem Tod ihres Bruders derart in sich zurückgezogen, dass sie den Ausgang nicht mehr fand. In ihr reifte darob die Überzeugung, dass sie in ihrem Innersten eine unglückliche Auster sei. Ihr Versuch, auf einer Miesmuschelbank im Wattenmeer eine neue Existenz aufzubauen, versandete kläglich.

Neals Ex-Gattin Nora hingegen sann auf Rache. Neal sollte für all das büßen, was er ihren Pferden angetan hatte. Ihr Plan: An einem strahlenden Frühlingstag wollte sie Neal auflauern und mit einer mächtig stinkenden Satteldecke langsam zu Tode fächeln, während sie mit triumphierender Stimme aus „Fury“ zitierte. Ein durchtrieben genialer Plan. Doch die globalen Klimaveränderungen durchkreuzten Noras Absichten. Strahlende Frühlingstage gehörten der Vergangenheit an. Nora verbitterte, verweigerte bald die Strohaufnahme und wurde später in einer Laufbox neben ihrem früh verstorbenen Fohlen Simon Mahler beigesetzt. zott

Der Klappentext stammt von dem Roman „Pferde am Fluß“ von Barbara Esstman, Bertelsmann Verlag 1997, 39,90 Mark.

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