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Der Zar der russischen Melodie

Fern der Heimat: Vor 150 Jahren starb der russische Komponist Michail Glinka in Berlin. Hier kam ihm die Idee zu einer Nationaloper. Lange war Glinka eine Symbolfigur der deutsch-sowjetischen Freundschaft – bis diese aus der Mode kam

VON KATJA PETROWSKAJA

„Weißt du auch, was für ein Tag heute ist?“, fragt der Berliner Arzt Dr. Kramer seine Frau. „Ein Familiengeburtstag vielleicht, den ich vergessen habe?“, antwortet sie, mit der Zubereitung des Morgenkaffees beschäftigt. „Keineswegs, meine Liebe! Kein Familientag und doch ein Erinnerungstag!“ – „Nun sag doch schon!“ – „Hier in dieser Zeitung lese ich es: Heute ist der 95. Todestag von Michail Glinka!“

So betulich beginnt das 1953 von Gerhardt Dippel geschriebene Buch über den russischen Komponisten Michail Glinka in Berlin mit dem ebenso betulichen Titel „Klingende Einkehr“. Die Kulturfunktionäre der jungen DDR mochten nicht bis zum 100. Geburtstag warten – ihnen war jedes Jubiläum recht, um das Einmaleins der russischen Musik sowie ganz nebenbei auch die Grundlagen der sowjetischen Ideologie zu präsentieren.

Wie zu einem riesigen Block zusammengegossen wirken das Büro der russischen Fluggesellschaft Aeroflot und die Russische Botschaft in ihrer stalinistischen Pracht an der Glinkastraße Ecke Unter den Linden. Heute vor 150 Jahren starb nicht weit von hier der russische Komponist im Alter von 52 Jahren in seiner Wohnung in der Französischen Straße.

Das Volk macht die Musik

Im Mai 1951 wurde die im Krieg fast komplett zerstörte Kanonierstraße von der sowjetischen Besatzungsmacht in Glinkastraße umbenannt. Am einzigen Haus, das stehen geblieben war, Glinkastraße 11, wurde eine Gedenktafel angebracht. Das Zitat unter dem Porträt des Komponisten lässt schon ahnen, warum Glinka in der Sowjetunion als „Gründer der russischen Musik und Entdecker der Volkstümlichkeit“ galt: „Es ist das Volk, das die Musik schafft, wir Musiker arrangieren sie nur.“

Michail Glinka war kein Denker und kein Revolutionär, er entsprach vielmehr dem Bild des politisch naiven Musikgenies – umso leichter ließ sich sein Name für ideologische Zwecke missbrauchen. Aufgewachsen auf einem Dorf mit Kirchenglocken und zwitschernden Vögeln, bewahrte er sich zeitlebens eine kindliche Weltanschauung. Viele seiner Freunde haben in der ersten adligen Revolte gegen die russische Monarchie 1825 teilgenommen, er hat davon wenig verstanden.

Ein „Gründer“ wurde Glinka aber tatsächlich. Er schuf für die Musik das, was Puschkin für die Literatur vollbracht hatte. Über sein Orchesterstück „Kamarinskaja“ sagte Peter Tschaikowski, das hierin die gesamte russische symphonische Schule enthalten sei „wie die Eiche in der Eichel“. Glinka gelang es, russische Melodik mit dem deutschen Kontrapunkt und dem italienischen Gesang zu verbinden. 1836 kam der Durchbruch mit „Das Leben für den Zaren“, die erste auf Russisch gesungene klassische Oper. Sie gilt als als Beginn der „Periode der russischen Musik“. Doch der politische Anspruch, der in solchen Einordnungen mitschwingt, war dem Komponisten Glinka eigentlich fremd.

In seiner Heimat bei Smolensk und später in Sankt Petersburg waren seine Musiklehrer Deutsche. Damals wurde viele Berufe – von Schustern bis hin zu Wissenschaftlern – überwiegend von Deutschen in Russland ausgeübt. Seine Verbindung mit Deutschland und seine Volkstümlichkeit ließen Glinka in der DDR zu einer Symbolfigur der deutsch-sowjetischen Freundschaft werden. Und solche brauchte die DDR, um ihren proklamierten Antifaschismus personell aufzurüsten.

Berliner sind charmanter

Nach Berlin kam der weit gereiste Glinka dreimal und blieb jedes Mal mehrere Monate. Hier konnte er als Privatmann leben, ohne Zarenhof und ohne sozialen Druck. Doch gerade in der Fremde kam ihm die Heimat auf neue Weise nahe: In Berlin entschloss sich Glinka, eine russische Nationaloper zu schreiben.

Dabei waren seine Beziehungen zu Russland weit entfernt von einem blinden Patriotismus. Als er 1856 Sankt Petersburg mit einem Fluch auf den Lippen verließ, wollte er nie wieder diese Stadt sehen. Über Berlin dagegen wusste er nur Gutes: „Die Menschen sind charmant, die Preise nicht zu hoch, sogar der Wein ist billiger als in Petersburg.“ Das lockt auch heute noch Russen nach Berlin, die der politischen und sozialen Turbulenzen ihrer Heimat müde sind.

1996 erklärte Boris Jelzin Glinkas „Patriotisches Lied“ zur russischen Nationalhymne. Im Jahr 2000 jedoch verabschiedete sich Wladimir Putin schon wieder von der Glinka-Hymne; er kehrte zur alten Sowjethymne zurück, allerdings mit neuem Text. In seiner Wahlheimat in Berlin war es einer Gruppe von Enthusiasten im gleichen Jahr gelungen, am Haus Französische Straße 8, dem Standort von Glinkas Sterbehaus, eine neue Glinka-Tafel zu enthüllen.

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