: Der Wortwucherer
Thomas Melle, Förderpreisträger der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung, bekennt sich offensiv zu sprachlichen Überdrehtheiten und Manierismen – und legt Wert auf die Feststellung, dass er sich trotz seiner Lust an deftigen Details als theoretischer Autor versteht. EinTelefongespräch
von JENS FISCHER
Mokant wirkt er auf dem Buchumschlag, dezent genervt – und ein drohend insistierender Blick sticht aus seinem jungenhaften Antlitz. Es ist sofort zu sehen, warum dieser Thomas Melle – zusammen mit Paul Brodowsky, Ariane Breidenstein und Kevin Vennemann – für die Suhrkampsche Jugend-Frühjahrsoffensive „Und nichts an mir ist freundlich“ gecastet wurde, mit der Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz „die Sprachlosigkeit in der Sprache“ thematisiert sehen will. Sprechen und nichts sagen? Wir fragen mal nach beim Bremer Literaturförderpreisträger.
„Ach, die Literatur“, sagt er am Telefon, zündet sich eine Zigarette an und nimmt an seinem Schreibtisch in Berlin-Kreuzberg Platz. PR-Arbeit. „Irgendwie gucke ich immer angeraunzt aus der Wäsche.“ Dabei sei das Porträtfoto für seine Verhältnisse schon von sehr freundlichem Ausdruck. „Ich neige zur Schwermut, zur Grantigkeit. Schon in der Schule wurde ich, bestens gelaunt, für einen Misanthropen gehalten.“
Von daher passt Melle gut in das Suhrkamp-Vermarktungsprofil. „Vier junge Wilde mit grimmigem Ton gegen die allzu lesefreundlichen Gefälligkeiten der aktuellen Literaturszene“, so Melle. Sein Band „Raumforderung“ ist eine Sammlung von zwölf Stilübungen, die der Autor „Experimente“ nennt: „Grenzen des Erzählens und mein Erzählen erkunden.“
Selten gab es so reichlich intelligenten und begabten Autorennachwuchs in Deutschland wie derzeit. Gute Handwerker, gepflegte Verfasser bekömmlich dargebotener Alltagsgeschichten. Dass deutsche Dichter immer so olympisch hoch dächten, der Vorwurf passt da längst nicht mehr. So dass jemand wie Melle gerade recht kommt, da er auch die Bedingungen, die Geschichte und die Einflüsse seines Erzählens auf einer zweiten Ebene miterzählt. Wenn dann noch Freuds Urszene durch die Webkamera neu gesehen, Gilles Deleuzes „Rhizom-Theorie“ angewendet, Kulturekel à la Gottfried Benn ausgebreitet wird, Zeichentheoretisches und Postmodernismen zur Anwendung kommen und der Autor schreibt, sein Werk lese sich „im Idealfall, als würden Stephen King und Franz Kafka in Personalunion einen U-Turn bei durchgedrücktem Gaspedal vollbringen“ – dann spricht die Kritik auch schnell von Kraftmeierei, Größenwahn-Attitüde und formlosem Patchwork.
„Das berührt mich nicht“, sagt Melle. Aber die Vielgestaltigkeit seines Prosa-Debüts ist schon verblüffend: in sich schlüssige Kurzgeschichten, bissig ironisch erzähltes Leben, „hyper-meta-reflexive Konstrukte“ (Melle), Computerspieltexturen, zerstückelte Briefe, impressionistische Textflächen, Proll-Slang-Jonglage, Protokoll einer Psychose, sexualisierte Tagebuch-Erinnerungen…
Melle beeindruckt dabei mit Perspektivwechseln – mal fast auktorial weiser Erzähler, mal Twen-Mädel als Ich-Erzählerin. „Ja, da bin ich sehr begabt“, betont Melle ganz uneitel, „Empathie ist ein Hauptmerkmal meines Schreibens“.
Seine pralle Lust aufs Sprachspielerische wurde bereits als „Ästhetik des Karzinoms“ klassifiziert, was so fern nicht liegt: Melles Schriftsteller-Parodie (als Selbstcharakterisierung) in der Erzählung „Wuchernde Netze“ pflegt die Metapher ja selbst. Und der Autor scheint sich auch mit der Benennung anfreunden zu können:„Ich selber weiß nicht genau, wo meine Vorliebe für karzinogene Wortfelder herrührt. Kaum schreibe ich, schon wuchert es.“ Die „Obernudel in der Buchstabensuppe“ als Meister des „Krebsbarock“.
„Trotz deftiger Details bin ich nämlich ein höchst theoretischer Schriftsteller, der sich lieber in die nächste Metaschleife hochschraubt, anstatt in schnödem Realismus den Asphalt der Straße zu besingen.“
Das sei sein Stil, so der 32-Jährige, er arbeite immer so, erst mal alles fließen lassen und hochschrauben. Einen größeren Kontrast zum Bremer Literaturhauptpreisträger, Hans Joachim Schädlich, hätte die Jury kaum finden können.
Melles Lieblingsmetaphern sind Krebs und Schimmelpilz. Die stehen beispielsweise für unkontrollierte, ausufernde Raumforderung, fortwährendes Wuchern – bis der Wirt, der Krebspatient, stirbt, oder die verschimmelpilzte Speise zu Gift geworden ist.
Was für die Literatur bedeuten würde: Schreiben bis zum Delirium, dem Tod des Textes? „Sprachlosigkeit in der Sprache“ (Unseld-Berkéwicz)?
Nicht bei Thomas Melle. Er greift rechtzeitig ein, strukturiert seine Wortgewebe, orientiert an Plot und Charaktere, und vernetzt die Erzählungen mit Querverweisen. So sei man als Schriftsteller gleichzeitig Objekt und Subjekt der Sprache und der Text mehr als ein „Gewebe ohne Mitte“.
Immerhin: Die Themen hat er mit dem Bremer Literaturpreisträger gemein. Während bei Schädlich Lebensentwürfe scheitern, sind es bei Melle vor allem Paar-, Familien-, Fernbeziehungen und beziehungswillige Singles. Und es geht um das Thema Tod, das Melle in einer ähnlich beiläufigen Diktion behandelt wie Schädlich.
„Das Unheimliche und Unnormale ist nämlich das Leben, nicht der Tod, der ist normal“, heißt es, und: „Der Tod geht mich nicht an. Aber das Sterben. Jeder Moment ist ein freier Fall.“ Wen Bücher mit solchen Sentenzen interessieren? „Das Publikum ist sehr begrenzt, setzt sich zusammen aus wirklich Literaturinteressierten und denjenigen, die selber schreiben.“ Und was interessieren Thomas Melle für Bücher? „Das verbotene Buch, Maxim Billers ,Esra‘, und Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijdens ,Movo-Tapes‘ werde ich auf meiner Reise nach Bremen lesen.“
Literatur-Events sind nicht Melles Lieblingsaufenthaltsort. Er lebt zurückgezogen, scheut Lesungen, weil er keine öffentlichen Erklärungen zur Literatur, „dieser leisen inneren Stimme“, abgeben mag. „Lesen ist Auseinandersetzung im Stillen.“ Genauso wie Schreiben. Seine Texte seien „work in progress“. „Tausende“ habe er als „Fragmente, als Steinbrüche meines Schaffens“ auf der Festplatte.
Zwei Jahre könne es dauern - von der Rohversion über diverse „Gärzeiten“ hin zu ein, zwei Dutzend Versionen der Endfassung. Bei „Raumforderung“ habe eine Lektorin kräftig mithelfen müssen. Auswählen – und komprimieren. Melle: „Ich neige ja zu sprachlichen Überdrehtheiten, ja: Manierismus.“
Da heißt es dann: Kill your darlings. Schonungslos müssen besonders geliebte Formulierungen und Textschlaufen eliminiert werden. „Seit das Buch veröffentlich wurde, führen die Geschichten ein Eigenleben. Sie werden mir immer fremder. ,Interferenz‘ finde ich inzwischen schludrig gearbeitet und erkenntnisarm, ,Dinosaurier in Ägypten‘ gefällt mir immer besser. Dass all das gleich bei Suhrkamp verlegt werde, damit geht mein Jungstraum in Erfüllung.“
Und der nächste folgt sogleich: Das Nachfolgewerk soll noch dieses Jahr vollendet sein. „Ein Roman“, sagt Melle stolz.
„Mit dem Bremer Preisgeld habe ich ein wenig mehr Freiraum gewonnen zum Leben und Schreiben.“ Soweit wie Regisseur Lars von Trier, der kürzlich sein Bremer Filmpreis-Geld den „Ärzten ohne Grenzen“ spendete, sei er noch nicht.
„Ich bin froh, keine Werbetexte mehr schreiben zu müssen, verdiene mein Geld sonst durch Übersetzungen.“ Auch bewerbe er sich ständig für Stipendien. Von „Raumforderung“ könne er sich nicht finanzieren. Auflage? „3.000 bis 5.000 Exemplare, schätze ich.“ Die Einnahmen? „So 15 Prozent vom Ladenpreis.“ Der Band kostet 15.90 Euro.