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Der Wahlkampf in Österreich ist ein Experiment am lebenden politischen KörperEs bist „Du“, der handeln soll

Knapp überm Boulevard

von Isolde Charim

Im März dieses Jahres hat Peter Unfried in der taz geschrieben, das grundsätzlich Interessante an heutigen Wahlkämpfen sei die „Asynchronität zwischen den Linien links-rechts und liberal-illiberal“. Alle Wahlen der letzten Zeit würden „auf der zweiten Linie gewonnen“. Mit dem alten Links-rechts-Spiel, mit dem Fokus auf sozialer Gerechtigkeit, sei der autoritären Herausforderung nicht beizukommen. „Wenn die anderen Skat spielen, kannst Du mit deiner Schachdame nicht gewinnen.“ Schrieb Unfried.

Claus Leggewie hingegen meint, dass auf dem Terrain der Identität – und das ist es, was der rechte Populismus aus der zweiten Linie gemacht hat: eine Identitätsfront – nicht zu gewinnen sei. Die einzige Chance für die Linke sei es, das Terrain zu wechseln und die politische Auseinandersetzung auf ein anderes Feld zu verlagern. Etwa jenes der sozialen Gerechtigkeit. Also die Skatspieler dazu zu bringen, das Spiel zu wechseln. Dann macht die Schachdame auch wieder Sinn.

Die soziale Frage!

Nun ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich Wahlkampf. Die österreichische Sozialdemokratie macht den Leggewie und erhört all jene, die rufen: Die Linke hat die soziale Frage vergessen! Sie habe den „kleinen Mann“ vernachlässigt. Sie habe den Kontakt zu ihren früheren Kernwählern verloren, die sich deshalb enttäuscht nach rechts wenden.

Die SPÖ kehrt also in ihr angestammtes Terrain zurück und führt ihren Wahlkampf unter dem Slogan: „Hol Dir, was Dir zusteht“ (Es gibt den Slogan auch in der erwachsenen Variante. „Holen Sie sich, was ihnen zusteht“.) Damit soll die Frage der Verteilungsgerechtigkeit wieder auf die Vorderbühne geholt werden. „Die anderen wollen nur über Flüchtlinge reden“, so Kanzler Kern, „nicht über Arbeitsplätze, Ausbildung oder Pflege.“

Das ist also der Wechsel des Spielfeldes: Wir wechseln das Thema. Wie aber wird über dieses andere Thema gesprochen? Der Slogan selbst ist eigentümlich schizophren – gespalten zwischen altem Klassenkampf und Klassenkampf für neoliberale Subjekte.

Der erste Teil des Slogans ist Sozialdemokratie neu (wobei diese Neuheit auch schon älter ist …). Da wird das materielle Interesse ins Zentrum gerückt – und zwar das jedes Einzelnen: „Hol Dir“ – da wird keine solidarische Gruppe angerufen, sondern – ganz im Einklang mit der Gesellschaftsformation, in der wir leben – der Einzelne. Kein „Wir“, sondern „Du“. Es bist „Du“, der handeln soll. Und dieses „Du“ soll sich folgerichtig seinen Teil vom Kuchen auch nicht erkämpfen, sondern holen.

Holen – das klingt nach schnappen, abstauben. Das klingt mehr nach Kasinokapitalismus für Arme als nach Klassenkampf. Zugleich ist da aber noch der zweite Teil des Slogans – „das, was Dir zusteht“. In diesem „Zustehen“ verdichtet sich aber etwas Altes. Damit ist nicht etwas Abgestandenes, Verstaubtes, Überholtes gemeint.

Rechte haben

Ganz im Gegenteil. In diesem „Zustehen“ blitzt vielmehr etwas durch, was der Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen ist: Ein Wissen, eine Lektion ihrer eigenen Geschichte, die in Vergessenheit geraten ist. Denn die soziale Frage war – früher – nie rein materiell. Die soziale Frage war einstmals verbunden mit einem Identitätsangebot. Es ging nicht einfach darum, Sozialleistungen zu empfangen, sondern Anspruch darauf zu haben. Sozialstaat, Umverteilung hieß einstmals nicht, Leute zu Almosenempfängern zu machen – sondern zu Rechte habenden Bürgern. Mit Stolz und gesellschaftlicher Anerkennung. Kurzum – Sozialdemokratie bedeutete mal materielle und symbolische Inklusion in die Gesellschaft. Es ist dieses vergessene Identitätsmoment, das in dem „Zustehen“ anklingt.

Es geht also nicht nur darum, die politischen Themen zu verschieben, sondern um den – sehr zaghaften – Versuch, ein anderes Identitätsangebot zu machen. Kann das eine erfolgreiche und progressive Strategie sein? Die österreichischen Wahlen sind insofern ein Experiment am lebenden politischen Körper. Sie entscheiden, ob Unfried oder Leggewie recht hat. Oder ob beide recht haben.

Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien

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