Der Vorsitzende Richter im Honecker-Prozeß, Hansgeorg Bräutigam (55), wurde gestern nach einem Beschluß der 27. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts wegen Befangenheit abgelöst. Er hatte in der Sitzung am 21. Dezember, als es um die Einstellung des Verfahrens gegen den ehemaligen SED-Chef ging, die Unwahrheit gesagt. Die „Autogrammaffäre“ aber war nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.

Bräutigam von Honecker schuldhaft geschieden

Kleine Lügen straft der liebe Gott sofort. Daß es allerdings Hansgeorg Bräutigam, den Vorsitzenden Richter der 27. Großen Strafkammer am Berliner Landgericht, so schnell treffen würde, damit war nicht zu rechnen. Beim letzten Prozeßtermin am vergangenen Donnerstag hatte die Honecker-Verteidigung und die Nebenklage ihre Befangenheitsanträge gestellt, gestern, einen Prozeßtag später, war Bräutigam seine Traumrolle – Honeckers Richter – los. Die 27. Strafkammer folgte der Argumentation von Verteidigung und Nebenklage, ihr Vorsitzender habe in der Hauptverhandlung am 21. Dezember 1992 die Unwahrheit gesagt, um eigenes Fehlverhalten zu vertuschen, und sei deshalb als Richter im Honecker-Verfahren untragbar geworden.

An der Entscheidung ist schwer zu deuteln. Allein die Tatsache, daß das Ausscheiden des Vorsitzenden in einem Verfahren dieser Qualität ein ziemlich spektakuläres Ereignis, sozusagen die allerletzte Chance zur Notbremsung darstellt, wirft ein Licht auf Bräutigams Fehlverhalten. Der hatte am 21.12.92 die Frage des Nebenklagevertreters, Hanns-Ekkehart Plöger, nach dem Inhalt eines „ominösen Flurgespräches“ mit den Honecker-Verteidigern als Abwicklung einer „normalen Postsache“ bezeichnet. In Wahrheit aber hatte sich der Vorsitzende Richter dafür hergegeben, dem Angeklagten Honecker über seine Verteidiger den eher ungewöhnlichen Wunsch eines Ersatzschöffen zu übermitteln: ein Autogramm vom ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden.

Übergeben hatte Bräutigam keine „Postsache“, sondern einen Ostberliner Stadtführer aus DDR- Zeiten, den sich der Schöffe mit Honeckers Autogramm zieren lassen wollte. Laut Honecker-Anwalt Nicolas Becker bat Bräutigam während des Flurgesprächs um vertrauliche Behandlung, was zumindest auf das Unrechtsbewußtsein des Vorsitzenden hindeutet.

Nachdem die ganze Sache in der Weihnachtspause aufgeflogen war, hatte Bräutigam in einer dienstlichen Erklärung dann versucht, seine Lüge abzustreiten: Er habe nicht die Unwahrheit gesagt, weil auch Autogrammwünsche „üblicherweise als Postsache weitergereicht“ würden. Auch Autogrammwünsche von Schöffen, deren Aufgabe es ist, über die Schuld von Angeklagten zu befinden?

Die Auswechslung war lange überfällig

Es darf spekuliert werden, was Bräutigam dazu veranlaßt hat, die von ihm geschätzte öffentlichkeitsträchtige Rolle als Honeckers Richter wegen des Weihnachtswunsches eines Schöffen aufs Spiel zu setzen. Oder erschien dem Vorsitzenden die Sache etwa risikolos, weil er selbst, wie die Honecker- Verteidigung, zum Zeitpunkt des vertraulichen „Flurgespräches“ noch davon ausging, Honecker werde sich am Abend bereits auf dem Weg nach Chile befinden? Wie auch immer, die Entscheidung des Gerichtes fiel gegen Honecker. Die Anwälte, die das ungewöhnliche Verhalten des Vorsitzenden als sicheres Indiz für die bevorstehende Freilassung gewertet hatten, waren sauer. Die Presse half – das Bild Bräutigams als unmöglicher Richter war um eine Facette reicher.

Das sah selbst die Staatsanwaltschaft so. Zwar wollte sie am vergangenen Montag den Befangenheitsanträgen gegen Bräutigam nicht folgen, doch auch die Kritik der Anklagebehörde am Verhalten des Vorsitzenden klang eindeutig: Prozeßbeteiligte sollten nicht „zum Objekt von Autorammwünschen“ gemacht werden, erklärte Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz, der, ohne einen expliziten Zusammenhang zu Bräutigam herzustellen, dennoch vom „beeinträchtigten Ansehen der Berliner und der deutschen Justiz“ sprach. Gerade vor diesem Hintergrund, so Jahntz, halte er es „nicht für dienlich, wenn die Auswechslung von Gerichtspersonen stattfinden müßte“.

Die Auswechslung war überfällig, die Autogrammaffäre nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Nicht nur hat Bräutigam wärend des gesamten bisherigen Hauptverfahrens eine eher unglückliche Figur gemacht; schon im Vorfeld bot er genügend Stoff für den Befangenheitsverdacht: An der Begeisterung, mit der er die „ungewöhnliche Herausforderung“, über Erich Honecker zu urteilen, annahm, ließ Bräutigam von Anfang an keinen Zweifel. Zweifel blieben allerdings, ob Bräutigam überhaupt rechtmäßig Honeckers Richter wurde. Der Verdacht der Verfahrensmanipulation im Vorfeld konnte jedenfalls nie ganz ausgeräumt werden. Sicher ist, daß Bräutigam selbst an der Entscheidung beteiligt war, die ihm das Honecker-Verfahren einbrachte.

Daß Bräutigam den Publicity- Wert seiner Rolle zu schätzen wußte, zeigte sich auch, als er sich vor Weihnachten plötzlich für die „Berliner Abendschau“ als Interviewpartner zur Verfügung stellte. Kopfschütteln allerorten – nur der Vorsitzende des laufenden Hauptverfahrens konnte nichts Anstößiges daran finden.

In Erinnerung bleiben auch die Zynismen, mit denen Bräutigam den wegen Honeckers Gesundheitszustand umstrittenen Beschluß garnierte, das Verfahren zu eröffnen: vielleicht, so spekulierte der Vorsitzende damals, sei ja das Verfahren geeignet, dem Angeklagten neue Lebensgeister einzuhauchen.

Vor dem Hintergrund solcher Formulierungen konnte auch die Unerbittlichkeit kaum überraschen, mit der Bräutigam auch die Untersuchungshaft gegen Honecker aufrechterhielt.

Mit dem Honecker-Prozeß schlicht überfordert

In der Verhandlung selbst präsentierte sich Bräutigam dann jedoch alles andere als souverän. Bei der Befragung der Angeklagten Keßler und Streletz präsentierte er sich schlecht vorbereitet als eher unpräziser Fragesteller, der den beiden aussagefreudigen DDR-Entscheidungsträgern des öfteren die Chance zum Lacherfolg eröffnete. In regelmäßigen Abständen auch drohte Bräutigam das Verfahren über die Wortwechsel zwischen Verteidigung und Nebenklage zu entgleiten. Noch die abstrusesten Einlassungen des Nebenklagevertreters Plöger hörte sich der Vorsitzende, zwar mit grimasseverzerter Mine, jedoch schweigend an. Daß der Prozeß so streckenweise zur Groteske geriet, dazu hat Bräutigam seinen – zumindest passiven – Beitrag geleistet. Mit dem Prozeß jedenfalls, dessen Vorsitz er erstrebt hatte, schien Bräutigam schlicht überfordert.

Jetzt folgt ihm der bisherige beisitzende Richter Hans Boß, der bereits die nächste Sitzung am kommenden Donnerstag leiten wird. Boß gilt als äußerst korrekt und zudem als Richter, bei dem die Unschuldsvermutung gegenüber dem Angeklagten herausragende Bedeutung einnimmt.

Den Vorsitzenden Bräutigam ist Erich Honecker jetzt los. Daß allerdings mit dem neuen Vorsitzenden Boß seine Chancen auf Haftentlassung gestiegen sind, dafür gibt es derzeit noch keine Indizien. Matthias Geis, Berlin