Der Verweiger

Christian Lewin ist zufrieden mit Berlin, mit der Technischen Universität, mit seinem Fach Informatik. Er kann sich nur eine berechtigte Streikforderung vorstellen. „Alle Langzeitstudenten rauskicken, aber rigoros“, sagt er. „Nein, Moment“, besinnt er sich, „ich bin ja selber einer.“ Warum? „Ich habe bereits vier Semester in München studiert, bevor ich an die Berliner TU gewechselt bin.“

Christian Lewin, 22, sitzt in T-Shirt und schwarzer Jogginghose am Esstisch seiner WG. „Mein Stundenplan ist sehr licht“, bekennt er. Und will wissen, wie lange der Streik denn noch dauert.

Christian streikt nicht. Er möchte sein Studium schnell durchziehen. Dreimal in der Woche fährt er von Schöneberg nach Tiergarten an die TU, um seine Vorlesungen zu hören. Die finden statt, trotz des Streiks, und sind gut besucht. Nur die Tutorien fallen aus. Recht hätten die Studierenden mit ihren Forderungen, sagt Christian Lewin. „Aber mit dem Streik schneiden sich die Studenten doch ins eigene Fleisch. Sollen sie doch so protestieren wie in München – nach den Vorlesungen und am Wochenende“, schlägt er vor. Und lächelt vergnügt über die Mentalität seiner Landsleute.

Den größten Teil der Kindheit hat er im Münchener Vorort Groß-Hadern verbracht. Bayer ist er von Geburt aus, ecuadorianischer Bayer. Seine Mutter, diplomierte Krankenschwester, stammt aus Südamerika. „Auf Krankenschwester zu studieren, das gibt’s nur in Ecuador.“ Ihre Familie lebt noch dort. Christian besucht sie einmal im Jahr. Nach dem Studium will er auswandern. Wie der Großvater vor fast 60 Jahren. Nachdem er Auschwitz überlebt hatte. Er war Jude und vererbte Christian seinen Namen – Lewin.

Christian treibt nichts fort aus Deutschland. „Aber ich möchte was für mein Land tun, viele Akademiker wandern aus Ecuador aus – ich komme.“ In zehn Jahren sieht er sich als Inhaber einer kleinen Computerfirma, vielleicht verheiratet. „Ich möchte Kinder, unbedingt.“ Ziel und Weg sind für ihn klar. „Ich will einen ordentlichen Job und Geld machen, damit ich für meine Familie sorgen kann.“

Gegenwärtig lebt er von dem Geld der Mutter, Unterhalt vom Vater und etwas Bafög. Nach Abzug der Miete bleiben 150 Euro. Das reicht ihm aus. Wenn er weggeht, dann meistens mit den Jungs von der WG. Die andere WG besuchen. „Alles Münchener.“ Alle keine Streik-Studenten. „Wenn ich’s recht bedenke“, sagt er, „kenne ich eigentlich niemanden, der dafür ist. Das wird wohl eine Minderheit sein, hauptsächlich Langzeitstudenten, die ihre Studienplätze retten wollen. Denn das ist ja so die Hauptforderung.“ Und die Studiengebühren? „Die sind voll okay. Würde ich sofort zahlen.“ Wem etwas an seinem Studium liege, der sei auch bereit, etwas auszugeben. Wenn das Studium nicht mehr kostenlos sei, könnten die Studenten auch was verlangen für ihr Geld, argumentiert er. So um die 400 Euro pro Semester könne er sich vorstellen. Nach Rücksprache mit den Eltern, versteht sich.

Für sozial Schwache müsste es Bafög geben. Christian versteht sich als Linker. „SPD-links“, präzisiert er und fügt hinzu, er wähle immer SPD, und das in Bayern.

Die Studentenproteste kommen ihm wie Panikmache vor. „Denen geht’s doch gut. Meine Cousine studiert in Ecuador. Die muss für ein Semester mehrere tausend Dollar zahlen – Dollar“, betont er. Wenn solche Zustände herrschten, ja dann würde auch er auf die Straße gehen.

ANNA LEHMANN