Der Unparteiische Hans-Dieter Krüger ist seit 1966 in Berlin als Schiedsrichter aktiv und hat über 3.000 Spiele gepfiffen. Das macht zusammen 2,3 Jahre seines Lebens. Ein Gespräch über seine Fußballleidenschaft, Schwächen und Stärken eines Schiedsrichters und den Umgang mit Fehlern: „Schiedsrichter sind auch nur Menschen und damit fehlerhaft“
Interview Alina Schwermer Fotos Sebastian Wells
taz: Herr Krüger, Sie machen seit 50 Jahren einen Job, den andere nicht mal ein Spiel lang durchhalten wollen würden. Wie halten Sie das durch?
Hans-Dieter Krüger: Weil ich den Sport mag. Ich habe selbst aktiv Fußball gespielt – nicht besonders gut, aber mit Freude. Ich wollte diesem Sport verbunden bleiben. Als ich noch selbst gespielt habe, habe ich hin und wieder ein Spiel leiten müssen, weil zum Beispiel kein Schiri angesetzt war oder der angesetzte nicht erschien. Regelfest und souverän war ich ganz und gar nicht. Und das hat mich geärgert. Also habe ich angefangen, mich mit dem Regelwerk zu befassen, und 1966 einen Schiedsrichterlehrgang absolviert. Aber dann habe ich gemerkt, dass es gar nicht so leicht ist, ein guter Schiedsrichter zu sein.
Weil Sie mehr Fehler gemacht haben, als Sie dachten?
Ja, denn Schiedsrichter sind auch nur Menschen und damit fehlerhaft. Wenn da 22 Spieler über den Platz rennen, kann ich nicht alle im Blick haben. Zumal Spielsituationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auch immer wieder anders wahrgenommen werden.
Und dann heißt es: Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht …
Für meine Entscheidungen wurde ich schon beschimpft mit allen Worten, die die Fäkalsprache hergibt. Manchmal heißt es: „Schiri, du pfeifst ja immer gegen uns!“ Aber wenn eine Mannschaft wiederholt Schiedsrichterentscheidungen kritisiert, pfeift der Schiri natürlich häufiger. Ich pfeife also nicht gegen sie, ich pfeife, weil sie mir den Grund dazu geben. Natürlich liege ich auch mal falsch.
Beschäftigen Sie Ihre Fehlentscheidungen im Nachhinein?
Ja. Über eine Fehlentscheidung, die keine Folgen hat, kommt man schnell hinweg. Aber wenn die Fehlentscheidung dazu führt, dass das Spiel kippt, denkt man schon eine Weile darüber nach. Man kann es ja nicht mehr richten, und ich muss damit leben. Es ist schon schwer, das zu verarbeiten.
Haben Sie sich mit den Jahren ein dickeres Fell zugelegt?
Das kann ich nicht. Ich bin zwar nicht so empfindlich, aber manches geht mir unter die Haut. Speziell, wenn es Spieler darauf anlegen. Kein Schiedsrichter geht auf den Platz und sagt: „Mensch, heute musst du mal drei Leute runterstellen.“ Aber manches, was gesagt wird, trifft einen schon. Und es wäre auch schlimm, wenn es nicht so wäre, denn dann wären wir Roboter.
Sie pfeifen seit über 50 Jahren. Haben die Spieler tatsächlich heute weniger Respekt vor dem Schiedsrichter als früher?
Früher hatten die Spieler mehr Respekt. Autorität wird heute im Alltag wie auch im Sport ungern anerkannt. Heutzutage meinen manche Spieler, den Schiedsrichter missachten zu können. Ich glaube aber auch, Fußball-Schiedsrichter sind teilweise nicht so konsequent wie zum Beispiel die Kameraden beim Handball.
Sie könnten doch einfach mehr Karten zeigen.
Der Idealfall wäre, dass wir Autorität durch unsere Persönlichkeit haben und nicht nur durch das Regelwerk. Und dass man Entscheidungen so überzeugend fällt, dass die Spieler das anerkennen.
Gelingt Ihnen das?
Eine solche Persönlichkeit, wie ich sie eben erwähnt habe, bin ich leider noch nicht. Aber vielleicht schaffe ich das noch. Die Schiedsrichter, denen man fast jeden Fehler verzeiht, sind eher selten. Der Italiener Pierluigi Collina gehörte zu dieser Gruppe [er gilt als einer der besten Schiedsrichter der Fußballgeschichte – Anm. d. Red.].
Wie verschaffen Sie sich denn Respekt?
Der Mann: 1940 in Moabit geboren. Sein erstes Fußballspiel im Verein absolvierte Hans-Dieter Krüger 1952 für Minerva 93 in "eigener kurzer Hose und Straßenschuhen". Bis 1970 als Hobby-Fußballer aktiv. War Polizeibeamter, ist heute pensioniert und wohnt in Biesdorf. Verheiratet, eine Tochter.
Der Schiedsrichter: Seit 1958 ist Krüger Mitglied beim FC Tiergarten. 1966 Schiedsrichterlehrgang, hat seitdem über 3.000 Spiele gepfiffen. Bis heute pfeift er Ü40- und Ü50-Spiele des Berliner Fußball-Verbands sowie beim Verband für Betriebsfußball Berlin e. V. Für sein langes Engagement wurde Krüger mehrfach ausgezeichnet und hat 2016 die Goldene Ehrennadel des Berliner Fußball-Verband (BFV) erhalten.
Der Verband: Der BFV wurde 1897 gegründet und ist der Dachverband der Berliner Fußballvereine. Er koordiniert über 3.300 Mannschaften mit mehr als 140.000 Mitgliedern. Damit ist der Berliner Fußball-Verband der größte Sportfachverband der Stadt. (asc)
Dadurch, dass ich versuche, überzeugend zu sein. Durch Mimik, durch Gestik, durch Auftreten. Ich muss den Spielern vermitteln: Das, was ich entscheide, gilt. Etwa durch die Art und Weise, wie man den Pfiff setzt. Ich kann zum Beispiel ganz energisch pfeifen, so laut es geht. Oder ich kann doppelt pfeifen, um besondere Aufmerksamkeit zu erlangen. Emotional darf ich keinesfalls werden. Das ist manchmal gar nicht einfach.
Kann man lernen, ein guter Schiedsrichter zu sein?
Man entwickelt sich über die Zeit. Am Anfang wurde ich einfach auf die Menschheit losgelassen. Ich musste mich durchbeißen. Aber man muss auch eine gewisse Persönlichkeit von zu Hause mitbringen, um es zu schaffen. Eine Schiedsrichterlaufbahn ist nichts für jeden.
Sie begannen ihre Laufbahn 1966 in Westberlin kurz nach dem Mauerbau.
Ich bin in Moabit geboren. Die Grenze zwischen dem Ost- und Westteil war vielleicht 800 Meter Luftlinie entfernt. Wenn die Alliierten Berlin ein Stückchen anders aufgeteilt hätten, wäre ich möglicherweise ein späterer Ostberliner geworden.
Sind Sie damals auch im Osten gewesen?
Westberlin war wie eine Insel im sogenannten sozialistischen Lager. Wenn wir sie verlassen wollten, mussten wir über die Transitstrecke. Die Grenzorgane haben uns ganz schön gefilzt. Am schlimmsten unter den Kontrolleuren waren die sächsischen Frauen. Aber ich hab mir damals zur Maxime gemacht: Da drüben wohnen Deutsche, und hier wohnen Deutsche. Ich will wissen, was da ist. Ich bin oft rübergefahren und habe mir alles angeguckt. Für die umgetauschten 25 Ostmark hat man den Tag drüben bestens verleben können. Ich bin oft ins Theater gegangen. Und wenn man ins Lokal kam und Westgeld in der Hand hatte, hat man oft noch einen Tisch gekriegt, auch wenn scheinbar alles voll war.
Sie haben vor unserem Gespräch gesagt, Sie haben sich immer als Berliner gefühlt.
Ich unterscheide nicht zwischen Ost und West. Ich bin in Berlin geboren und bin daher ein Gesamtberliner. Wenn ich drüben gelebt hätte, wäre ich möglicherweise auch in die SED eingetreten, um mir damit eine bessere Chance für ein Studium zu eröffnen. Nur eines hätte ich nie gemacht: Menschen zu denunzieren.
Haben Sie sich intensiv mit solchen Fragen auseinandergesetzt?
Ich habe ja glücklich auf meiner Insel gelebt. Von daher waren das nur theoretische Überlegungen.
Sie haben auf Ihrer Insel dann eine Schiedsrichterlaufbahn begonnen. Haben Sie je von einer großen Karriere geträumt?
Nein. Ich habe meinen Sport ernst genommen, aber nie zu ernst. Ich habe es eigentlich für mich gemacht. Mein heimlicher Hintergedanke war immer: Ich tue es für meine Gesundheit. Das Spiel, das ich leite, ist für mich gleich auch Training. Nicht nur sportives Training, sondern ich trainiere ja auch den Umgang mit Menschen. Ich muss mich durchsetzen. Das fördert doch die Persönlichkeit.
Man kann sich definitiv auf langweiligere Weise fit halten.
Jeder hat seine persönlichen Macken. Und das ist meine.
Könnten Sie Bundesliga pfeifen, wenn man Sie ließe?
Eindeutig nein. Zwischen der Schnelligkeit des Spiels in der Bundesliga und der Geruhsamkeit in meinem Bereich liegen Welten. Was Bundesliga-Schiedsrichter leisten, ist bemerkenswert. Sie sind als Sportler den Spielern absolut ebenbürtig.
Sind Bundesliga-Schiedsrichter Ihre Vorbilder?
Ich habe keine direkten Vorbilder, aber ich mag bestimmte Typen. Was ich gut finde, sind Schiedsrichter, die die Aura des Kameradschaftlichen haben. Wolf-Dieter Ahlenfelder, kennen Sie den noch?
Nein, da muss ich passen.
Ist auch schon eine Weile her. Das war so ein Schiedsrichter, von dem die, die ihn erlebt haben, noch heute die eine oder andere Episode erzähle. Dem haben die Spieler auch Fehler verziehen [wie diesen: Bei einer Partie zwischen Werder Bremen und Hannover 96 im November 1975 war Ahlenfelder angetrunken – Anm. d. Red.]. Solche Typen mag ich. Die Autoritären mag ich weniger.
Und wenn mir das Kumpelhafte nicht liegt?
Sie müssen so pfeifen, wie die Natur Sie gestrickt hat, dann machen Sie es richtig. Wenn die Natur Sie eher autoritär als kameradschaftlich gestrickt hat, ist das eben so. Jeder ist anders. Ich bin ich.
Was für ein Schiedsrichter sind Sie denn?
Ich meine, ich habe eher einen positiv-neutralen Ruf. Es gibt aber auch Spieler und Mannschaften, die mögen mich weniger. Ein Beispiel: In einem Spiel gab es einen Spieler, der sehr häufig abseits lief. Ich musste deswegen oft abpfeifen, was ihn sehr aufbrachte. Er meinte, ich hätte es auf ihn abgesehen. Was aber hätte ich gegen ihn persönlich haben sollen? Als wir uns in einem späteren Spiel begegneten, hörte ich, wie er zu seinen Mitspielern sagte: „Ach Gott, da kommt der schon wieder!“ Der hatte also keinen guten Eindruck von mir.
Wie kann sich das der Laie vorstellen? Wie das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler?
Nein. Das darf man den Spielern nicht anbieten. Das Beste ist, auf Augenhöhe zu agieren. Ich sieze deshalb auch auf dem Sportplatz ganz bewusst. Es ist leichter für die Spieler, „du Arschloch“ zu sagen als „Sie Arschloch“. Der Schiedsrichter ist immer so gut wie die Liga, in der er pfeift. Wir sind mit den Spielern auf einer Augenhöhe.
Ist es jemals wirklich brenzlig für Sie geworden?
Ja, ein Mal. 1981 habe ich eine deutsch-türkische Mannschaft gepfiffen, bei der es irgendeine Reiberei gab. Ein türkischer Spieler schlug mich, wurde von seinen Mannschaftskameraden zurückgehalten und machte sich aber wieder frei. Er sprang nach vorne und spuckte mir ins Gesicht. Wer sich ein bisschen mit diesem Kulturkreis auskennt, weiß, was es dort bedeutet, jemanden anzuspucken. Das ist das Schlimmste, was man machen kann.
Wie haben Sie reagiert?
Ich bin vor Gericht gegangen. Der Täter ist wegen Körperverletzung verurteilt worden. Das war das Schlimmste, was ich in 50 Jahren erlebt habe. Ansonsten habe ich natürlich viele rote Karten verteilt – ich kann mich gar nicht an alle erinnern –, aber das gehört dazu. Das Schöne an meiner Tätigkeit überwiegt jedoch deutlich.
Sie haben über 3.000 Spiele geleitet. Viel Lebenszeit für den Fußball.
Ich habe mal eine Rechnung aufgemacht: Ich habe in 50 Jahren ungefähr 3.000 Spiele gepfiffen, dazu Schiedsrichterlehrgänge besucht, Training gemacht, an Versammlungen teilgenommen. Dabei komme ich insgesamt auf ungefähr 20.000 Stunden, die ich für und in den Fußball investiert habe. Das sind 850 komplette Tage oder 2,3 Jahre. 3 Prozent meines Lebens. Das habe ich mal ausgerechnet, weil ich mir gedacht habe: Wenn man mich schon mal interviewt, muss ich auch etwas erzählen können. Und an dieser Stelle muss ich sagen: Danke an meine Frau, dass sie das akzeptiert hat.
Hat der Fußball Ihre Ehe belastet?
Meine Frau hat mich immer klaglos gehen lassen. Nur mitgehen wollte sie nicht. Sie hat keine Neigung zum Fußball, sie guckt das auch nicht im Fernsehen. Aber sie hat meine Leidenschaft immer toleriert. Nur als ich die Zahlen gesehen habe, habe ich gedacht: Verdammt noch mal, das ist wirklich eine ganze Menge.
Dabei klingen Sie gar nicht so fußballfanatisch.
Ich gehöre zu den Leuten, die Sport als friedliche Sache sehen. Ich bin kein Fan irgendeines Vereins. Ich mag auch den Bundesligafußball gar nicht so sehr; da geht es nur um Geld. Das steht in keinem Verhältnis zu dem, was ein normaler Arbeitnehmer verdient. Mir gefällt der Amateursport besser. Ansonsten gehe ich auch hin und wieder zu Union, da stimmt die Atmosphäre.
Sie fühlen sich also nicht zur Neutralität verpflichtet?
Neutral? Das wäre ja blöd. Da würde ich ja einen Teil meiner Persönlichkeit aufgeben. Wenn mir etwas gefällt, dann stehe ich dazu. Und wenn das jemandem nicht passt, ist das seine Sache.
Und Sie pfeifen immer noch fast jedes Wochenende die Altherrenspiele in der Ü40 und der Ü50. Wie schaffen Sie das Pensum?
Erst mal halte ich mich durch die Spiele selbst fit. Ansonsten fahre ich viel Rad, auch zu meinen Spielen. Außerdem habe ich lange Tennis gespielt. Aber leider habe ich mir dabei die Knie geschädigt. Ich kann jetzt auch nicht mehr joggen. Deshalb leite ich nur noch Spiele der Ü40 und Ü50 auf dem Kleinfeld. Daneben gehe ich schwimmen und mache ein bisschen Gymnastik zu Hause.
Was fasziniert Sie nach 50 Jahren nach wie vor am Job des Schiedsrichters?
Die Freude, dass ich dem Sport, den ich mag, erhalten bleibe. Und die Momente, in denen selbst die unterlegene Mannschaft sagt: „Mensch, Schiri, gute Leistung!“ Zwei zufriedene Mannschaften, anregende Gespräche und dazu ein Bier – so schön kann die Welt für einen Schiri sein.
Herr Krüger, Sie sind bereits seit 1966 aktiv – also 50 Jahre lang. Wie lange werden Sie noch pfeifen?
Die 50 Jahre wollte ich vollmachen, das habe ich geschafft. Was jetzt noch kommt, ist Zugabe. Der Schiri-Ansetzer weiß, dass ich pflichtbewusst bin. Ich lasse keine Spiele sausen. Ich mache das noch eine Weile. Kommen Sie wieder, wenn ich das hundertste Jahr vollhabe (lacht). Dann komme ich aber mit der gelben Binde um den Arm.
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