: Der Übergangsarsch macht nachdenklich
Die Umleitung des ICE Hamburg–Berlin ist schuld, dass nun auch Großstädter Salzwedel kennen. Unser Autor ist ausgestiegen und hat sich in dem altmärkischen Ort umgeschaut
Aus Salzwedel Fabian Stark (Text und Fotos)
Es gibt keinen schnelleren Weg zu tiefer innerer Ruhe als an einem Sonntagmorgen mit dem Zug von einer Großstadt in eine deutsche Mittelstadt zu fahren. Seit einigen Monaten kann in diese Gleichung anstelle der Mittelstadt auch „Salzwedel“ eingesetzt werden – eine temporäre logistische Besonderheit, die mit der Generalsanierung der Schnellzugstrecke Berlin–Hamburg zu tun hat. Dadurch fahren die ICEs einen Umweg. Lüneburg, Uelzen sowie Salzwedel verfügen nun über eine Direktverbindung in die beiden größten deutschen Städte. Die Chance also auf viele Millionen neue Tagestourist:innen. Sind sie darauf vorbereitet?
Widmen wir uns der unscheinbarsten dieser drei Mittelstädte: Salzwedel. 22.000 Einwohner, gelegen in der Altmark im nördlichen Sachsen-Anhalt und bisher vor allem dafür bekannt, die am weitesten von einer Autobahnauffahrt entfernte deutsche Stadt zu sein.
So steigt der Berliner an einem Sonntag um 8.38 Uhr in einen ausgesprochen leeren ICE. Im Großraumabteil: ein letzter Moment deutsch-passiv-aggressiver Befindlichkeiten. Fahrgast 1: „Darf ich vorbei?“ – Fahrgast 2: „Wenn’s sein muss!“ – Fahrgast 1: „Ja, ich muss.“ Haha! Das war es aber schon mit zwischenmenschlicher Konversation in dieser Reisereportage, wir tauchen nun ein in absolute mittelstädtische Ruhe. In Blumigkeit, Bächlein und Backstein.
Am Halt Salzwedel steigen fünf Passagiere aus, alle scheinen Einheimische zu sein oder zu Besuch bei Einheimischen. Der Berliner folgt fortan den zwei Konstanten Salzwedels: erstens den Mauerbeschriftungen der örtlichen Antifa-Szene, die hier sehr stabil zu sein scheint. Und zweitens der Reklame des Café Kruse, dessen Maskottchen ein Kind ist, das samt seiner Schürze der Form des „Königlichen“ Baumkuchens gleicht, den es hoch emporgehoben vor sich balanciert. Physikalisch ist das ein Ding der Unmöglichkeit.
Das Baumkuchenkind führt auf mannigfaltigen, ja penetranten Wegweisungen einmal quer durch die Altstadt und an beinahe allen Sehenswürdigkeiten vorbei. Den Anfang macht dabei der Wasserturm am Bahnhof, natürlich aus Backstein, genau wie die kurz darauf folgende Katharinenkirche, salzwedel’sche Brutstätte der friedlichen Revolution von 1989, heute mit geschlossener Tür. Der Pfarrer ist im Urlaub.
Vor der Kirche steht eine Tauschbücherei in einer roten Londoner Telefonzelle. Wer bereits Heimweh nach Berlin hat: Hier werden auch dreckige Spannbettlaken zum Tausch geboten. An der Ecke wartet das erste kulinarische Highlight, das georgische Restaurant Aragwi. Doch heute nicht, wir werden uns noch der lokaltypischen Küche zuwenden. Der Asia-Shop („Textilien und Geschenkartikel“) beweist, dass Salzwedel nicht bloß Anschluss an den ICE, sondern durchaus auch an globale Trends der Popkultur hat. Nebst Weckern und Baby-Buddhas aus Plaste bietet der Shop auch Labubus an, die teuflisch entschieden dreinblickenden Kuschelmonster-Anhänger aus China. Hier in Salzwedel sind sie der größte Gegensatz zur Idylle.
Wer wie der Berliner vorab die städtischen Infobroschüren liest, bekommt den Eindruck, Salzwedels Beschaulichkeit baue auf Kopfstein, Backstein und Fachwerk. Die entscheidende Zutat sind aber die Wassergassen, welche die Altstadt umspielen, und zwar die Jeetze, die Dumme und dieser eine Kanal dazwischen. Erst das – plus Fachwerk – eröffnet pittoreske Perspektiven, die sich gewaschen haben. Warum da noch nach Straßburg streifen?
Freilich birgt diese altmärkische Hutzeligkeit auch einen gewissen Horror, wie in dem dieses Jahr in Cannes prämierten Film „In die Sonne schauen“ zu sehen ist. Der spielt immerhin in der Altmark. Doch an diesem sonnigen Vormittag ist davon nichts zu spüren, einzig ein Mann blickt grimmig drein. Er lenkt seine kleine Tochter in einem riesigen, rosafarbenen, ferngesteuerten Auto durch die ansonsten leer gefegte Breite Straße.
Der Berliner kommt nun am Salzwedeler Puparschbierbrunnen vorbei, geziert durch die mahnende Losung „Allen wird bekannt gemacht, das keiner in die Jeetze kackt, denn morgen wird gebraut“. Womöglich, weil das erwähnte Hinterteil hier in der Tat fehlt, ja Imagination der Betrachter*innen bleibt, hat ein Unbekannter eines gebastelt und über den Brunnen gelegt. „Übergangsarsch“ steht darunter nun geschrieben. Macht nachdenklich.
Weiter geht es, hinein in den Burggarten, dessen Burg nur noch aus einem dicken roten Turm besteht, linkerhand führt ein Trampelpfad entlang, bis der Berliner schließlich vor dem wohl unvermeidlichen Café Kruse steht. Beziehungsweise: dahinter. Er blickt auf die Terrasse, die Tische sind ungedeckt, das Tor verschlossen. Durch das Gitter ist kein Baumkuchen zu erblicken, dafür immerhin eine menschenhohe, silberne Baumkuchenskulptur.
Für Kaffee und Kuchen wäre es aber ohnehin noch zu früh. Für den Berliner soll es jetzt eine der herzhaften regionalen Spezialitäten sein. Das lokaltypische Zungenragout findet er auf den hiesigen Speisekarten leider nicht, es ließe sich nur online im Glas bestellen. Stattdessen soll eine Altmärkische Hochzeitssuppe das Finale sein. Auch des inneren Zur-Ruhe-Kommens.
Auf dem Weg zum Restaurant Kulti passiert der Berliner – befreit vom Café-Kruse-Spam – das Geburtshaus von Jenny Marx, der Frau vom Karl, und schreitet einmal quer durch die Lorenzkirche, unter einem imposanten hellen Gewölbe mit Konturen aus, natürlich, Backstein. Ein Chor ertönt, nur woher? Aus der Ferne dreht nun eine breite Gesellschaft ihre Köpfe nach links, in Richtung des Berliners. Hier und heute wird geheiratet.
400 Meter weiter die Altperverstraße runter liegt das Autonome Zentrum Salzwedel, rebellischerweise ohne Backsteinfassade. Bald stehen hier wieder Bauwochen an („Pennplätze möglich“). In den vergangenen Jahren wurde das AZ immer wieder angegriffen, zuletzt im Februar mit Steinen beworfen. Kurz vor der anvisierten Gaststätte erzählt schließlich eine Hauswand, was Salzwedel überhaupt mit Salz zu schaffen hat: Die einstige Hansestadt liegt an einem nach Süden ragenden Nebenarm der Alten Salzstraße zwischen Lübeck und Lüneburg, über die im Mittelalter Salz gehandelt wurde. Gewedelt wurde es hier leider nicht. Das „Wedel“ führt eher auf eine seichte Stelle in der Jeetze zurück, an der Karren sie queren konnten.
Im Restaurant Kulti – drinnen Cocktailbar-Vibe, draußen Biergarten – ist der Berliner heute der einzige Gast. Als Gruß aus der Küche gibt es zwei Scheiben Zwiebelbrot mit Olivenöl, unmittelbar gefolgt von der Altmärkischen Hochzeitssuppe, einer diesigen Brühe mit drei Einlagen: Spargelstücke, Fleischklößchen, Eierstich. Mit viel Salz drin, vielleicht ja aus Lüneburg.
Gut gesättigt und gesalzen steigt der Berliner wieder in den Zug. Zum eigentlichen, touristischen Magnet der Stadt, dem „Märchenpark & Duftgarten“ mit Elfencafé, Minigolfanlange, Go-Kart-Rundweg, Irrgarten und Hunderten Märchenfiguren, hat er es nicht geschafft. Dafür bräuchte es eine gute Stunde Fußweg über Landstraße. Ein Ziel für Eltern, Kinder – und ihre Autos.
Aber es geht ja auch ohne. Die Züge fahren beinahe stündlich. Laut Deutscher Bahn entfällt der ICE-Halt Salzwedel ab 1. Mai 2026.
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