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Der Turner zwischen den Holzbalken

Flach wie Wasser: In Wolfsburg und Krefeld werden Arbeiten des Minimal-Artisten Carl Andre gezeigt  ■ Von Michael Stoeber

Die Kunst des Künstlers oder das, was er selbst seinen persönlichen Stil nennt, verdankt sich einem konstruktiven Mißverständnis. Es war Ende der fünfziger Jahre. Der junge Carl Andre hatte kein Geld und kein Atelier. Er wohnte und arbeitete bei seinem Freund Frank Stella in New York. Eines Tages trieb er mit dem Beitel gegenläufige Stufen aus einem rohen Holzbalken. Für seine „Last Ladder“ hatte der junge Künstler sein großes Vorbild Brancusi und dessen „Unendliche Säule“ im Kopf, die in den Himmel reichend und nach Belieben fortsetzbar eine Ikone metaphysischer Entgrenzung ist. Als Frank Stella einen Blick auf die Arbeit des Freundes warf und die drei roh belassenen Seiten sah, meinte er: „This is sculpture, too, you know“, womit er Andre zu verstehen geben wollte, er solle sich für die verbliebenen drei Seiten des Holzbalkens doch auch Gestaltungsmöglichkeiten einfallen lassen. Aber dieser verstand Stella so, daß schon der Balken im Rohzustand skulpturale Qualität entwickele. Damit war Andre auf dem Weg, seine bildhauerische Sprache zu entdecken.

In Zukunft wird er Säge, Hammer und Beitel beiseite lassen und sich auf das Material, so wie es ist, konzentrieren. Mit Eisen, Holz und Stein wird er Räume und Ort erobern, um ihre Physiognomie zu neuer Kenntlichkeit zu verändern. Von nun an hat das Material für Carl Andre nicht mehr dienende Funktion. Es wird vom Objekt zum Subjekt des Kunstwerks. Seine „35 Timber Line“ bildet aus 35 gleichformatigen Holzbalken eine gerade, 35 Meter lange Linie, deren Einzelelemente mit ihren kurzen Seiten unverbunden genau hintereinander liegen. Der Titel beschreibt präzise Anzahl, Material und Form der Skulptur. Mit dieser Arbeit aus dem Jahre 1968 erreicht auch die Auseinandersetzung mit Brancusi eine eigenständige Qualität. Von der „35 Timber Line“ sagt Carl Andre, er habe damit die „Unendliche Säule“ des rumänischen Bildhauers auf den Boden gelegt. Sein Werk orientiert sich an den horizontalen Dimensionen des Raums und negiert die jahrhundertealte, vertikale Ausrichtung der Skulptur.

In Düsseldorf zum ersten Mal gezeigt, akzentuierte die Arbeit die Fassade der Kunsthalle, an einem anderen Ort bildete sie die Mittelachse eines Kreuzganges, jetzt, bei der großen Retrospektive des amerikanischen Bildhauers zu seinem 60. Geburtstag, schneidet sie wie eine dynamische Diagonale durch die große Ausstellungshalle des Wolfsburger Kunstmuseums und teilt die Fläche in zwei gleich große Hälften. Ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie die Arbeiten von Carl Andre unterschiedliche Räume definieren und sich selbst im räumlichen Kontext verändern.

Mit etwa sechzig kleineren und intimeren Arbeiten bezieht die bislang größte Übersichtsschau des Künstlers auch das Museum Haus Lange und das Haus Esters in Krefeld ein, für das Andre einst eine seiner ersten Skulpturen in Europa konzipierte. Es ist eine flache, kubische Form, 36 Kupferplatten im Quadrat, deren Elemente unverschweißt nebeneinander liegen. Heute, wie vor 27 Jahren auf der berühmten Ausstellung „When Attitudes Become Form“, wird die Arbeit auf der Südterasse des Mies-van-der-Rohe-Hauses präsentiert. Hier ist der Kunstkenner am ehesten geneigt, die Arbeit mit dem Werk von Andre zu verbinden, der angeblich während einer Kanufahrt auf die Idee kam, Skulpturen „flach wie Wasser“ zu bauen.

Je nach Standpunkt des Betrachters wirken die „36 Copper Squares“ wie ein Parallelogramm, ein ungleichmäßiges Viereck oder eine verzogene Raute. Im Schein der untergehenden Sonne leuchtet das warme Kupfer wie Feuer. Farblich verbinden sich die unpatinierten Platten fast bis zur Ununterscheidbarkeit mit dem Klinkerton des Hauses. Unmerklich zeichnet die Arbeit die leichten Verwerfungen des Bodens nach. Beim Darüberschreiten wird der Ort durch unterschiedliche Klangfarben physisch spürbar.

Das ist auch ganz im Sinne von Carl Andre. Er will kein Ideenkünstler sein, und „minimal“ bedeutet für ihn nur, mit „größter Sparsamkeit die großartigsten Ergebnisse zu erzielen“. Eher hält er es mit dem englischen Dichter William Blake und spricht von seinen Arbeiten als „Gesichtszüge befriedigter Begierden“. In der Bildhauerkunst dieses Jahrhundert ist Andre den Weg von der Skulptur als Form und Struktur zur Skulptur als Ort und Materie gegangen. Seine Hinwendung zum Material ist total. Andre schraubt, schweißt und klebt seine Skulpturen nicht, sondern die Elemente verbinden sich allein durch das Gewicht der Materialien. Seine Module läßt er industriell fertigen und stellt sie so lange zusammen, bis sie eine neue Identität als Kunstwerk bekommen.

In einem englischen Wortspiel hat sich Andre einmal als „The Turner of Matter“ bezeichnet. Darin ist das Drehen und Wenden – englisch to turn – das Verwandeln ebenso enthalten wie der Hinweis auf den englischen Maler William Turner, der seine Farbpigmente unvermischt und rein auf die Leinwand brachte.

Carl Andres Pigment ist das Material, das harte Holz der amerikanischen Zeder, das stumpfe Blei, der blitzende Stahl, das leuchtende Aluminium, das glühende Kupfer. Mit ihnen malt er im Raum wie vor hundert Jahren Claude Monet, wenn er ein und dasselbe Motiv, eine Kathedrale in der französischen Provinz, zu verschiedenen Tageszeiten bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen auf die Leinwand brachte. Ähnlich wie der Impressionist, der damit die Relativität des Wirklichen im Bild festhielt, geht Andre äußerst reflektiert vor. In skulpturalen Schneisen und Wegen, Feldern und Inseln wird der Raum von ihm neu vermessen. Imaginäre Geraden durchschneiden ihn in jene Richtungen, welche die Arithmetik seiner Skulpturen präzise vorgibt. Auch wenn der amerikanische Künstler dabei eigene Wirklichkeiten schafft, verlieren seine Arbeiten doch nie Form und Funktion der Orte aus den Augen, für die sie entstehen.

„Wolfsburg at large“. Bis 21. April im Kunstmuseum Wolfsburg; „Krefeld at home“. Bis 21. April im Haus Lange und Haus Esters, Krefeld. Katalog: 68 DM

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