Der Trend zur Volksabstimmung: Deutsche Direkte Demokratie
Die Berliner stimmen über die Zukunft des Flughafens Tempelhof ab, viele Parteien instrumentalisieren Entscheide als politische Waffe - so auch die bayerische CSU.
MÜNCHEN/BERLIN taz Kemal Atatürk mischt mit in Berlin. Beim Volksentscheid. Auf Großplakaten wirbt ein Zitat des türkischen Staatsgründers für die Offenhaltung des innerstädtischen Flughafens Tempelhof. "Alle Macht geht bedingungslos und vorbehaltlos vom Volke aus" hat die Interessengemeinschaft Berlin-Tempelhof (ICAT) weiß auf blau geschrieben - auf Türkisch. Der Werbespruch für Einwanderer illustriert, wie stark Berlins erster landesweiter Volksentscheid starre Fronten in Bewegung bringt.
In Sachsen stimmen die Dresdner erneut beim Komplex Waldschlösschenbrücke ab. Jetzt geht es darum, ob anstelle der umstrittenen Brücke ein Tunnel gebaut wird, um so den Titel als Unesco-Welterbe zu retten. Der Ausgang des Begehrens ist völlig offen. In Leipzig verhindert ein Bürgerentscheid im Januar den Verkauf von 49,9 Prozent der Leipziger Stadtwerke. Die Teilprivatisierung des kommunalen Unternehmens kann so verhindert werden. Auch wenn in Bayern das Aus für den Transrapid bereits feststeht, lehnte der Bayerische Verfassungsgerichtshof Anfang des Monats noch ein Volksbegehren gegen den Bau ab. Die Abstimmung hätte gegen die Landesverfassung verstoßen, wonach über den Staatshaushalt kein Volksbegehren stattfinden dürfe. Vergangenen November scheitert im Saarland der geplante Bau eines Steinkohlekraftwerks an einem Bürgerentscheid.
Die Berliner haben im bundesweiten Vergleich mehr Möglichkeiten, sich demokratisch einzumischen. Auf Bezirks- und Kommunalebene bewertet Michael Efler von "Mehr Demokratie e. V." das Berliner Gesetz "Mehr Demokratie für BerlinerInnen und Berlin" als bundesweit einmalig. Es gebe für Bürgerbegehren "einen regelrechten Sturm". Seither haben Initiativen 23-mal Forderungen an die Berliner Bezirksparlamente gerichtet. Aber nutzt Bürgerbeteiligung wirklich den Bürgern, oder werden ihre Entscheide politisch instrumentalisiert?
Wenn am 27. April mehr als 2,4 Millionen Hauptstädter abstimmen, werden CDU und FDP eine bunte Mischung aus Luftbrücken-Nostalgikern, Basisdemokraten und Anwohnern ansprechen. Auf der anderen Seite werben SPD, Linkspartei und die oppositionellen Grünen dafür, das vom CDU-SPD-Senat einst beschlossene Aus des Flughafens zum 31. Oktober umzusetzen. Eine Weiternutzung gefährde die juristische Grundlage für den Betrieb des Großflughafens Berlin Brandenburg International (BBI) in Schönefeld. Dieser soll Ende 2011 eröffnen. Genaue Pläne, was auf dem Gelände, so groß wie 500 Fußballfelder, entstehen soll, können die Schließungsbefürworter nicht vorweisen. Sie werben mit simplem Sozialneid. Von einem ihrer Plakate blickt ein mürrischer Bauarbeiter hinab und berlinert: "Ick zahl doch nicht fürn VIP-Flughafen!" Die Volksentscheid-Macher wollen das Riesengelände als Landeplatz für Geschäftsflieger nutzen.
Trotz all der Grabenkämpfe - die Tempelhof-Debatte erweist sich aus Expertensicht als Erfolg. "Wenn den Bürgern demokratische Instrumente zur Verfügung gestellt werden, nutzen sie diese auch", urteilt Michael Efler. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap vom vergangenen Wochenende interessieren sich 64 Prozent der Berliner "sehr stark oder stark" für die Abstimmung. 50 Prozent der insgesamt 2.500 Befragten sprachen sich zudem für den Weiterbetrieb des Flughafens aus, nur 37 Prozent dagegen.
Zu den Parteien auf beiden Seiten gesellen sich Unternehmer und Anwohnerinitiativen. Die Schließungsgegner erhalten massive Unterstützung von Industrieverbänden und Konzernen wie der Bahn AG. Die Zeitungen des Springer-Konzerns werben unverhohlen mit Überschriften wie "Acht starke Argumente für Tempelhof". Im Meinungswirrwarr versteht kaum noch ein Wähler, was der Volksentscheid überhaupt bewirken kann, worum es tatsächlich dabei geht. Denn dessen offizielles Ziel ist nur ein rechtlich unverbindlicher Appell an den Senat, die Schließung noch einmal zu überdenken.
Die Stadtregierung jedoch lässt keinerlei Zweifel aufkommen: Sie will den Flugbetrieb nach 75 Jahren einstellen und den Verkehr schrittweise auf den künftigen Großflughafen im brandenburgischen Schönefeld verlagern. Das ist mit dem Bund und dem Land Brandenburg seit Jahren vereinbart und vom Bundesverwaltungsgericht abgesegnet. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) sagt indirekt, wie er den Volksentscheid bewertet: Für ihn sei das Ergebnis "rein rechtlich nur eine Empfehlung".
Dennoch beweisen die Berliner, dass mehr demokratische Beteiligungsrechte auch zu mehr Beteiligung führen. Rot-Rot einigte sich Mitte 2006 auf eine Verfassungsänderung, die Abstimmungen erst spannend macht. Damals hängte der Senat die Hürden für Gesetzesänderungen per Volksentscheid deutlich niedriger. Am Ende eines mehrstufigen Verfahrens müssen dessen Initiatoren nun 25 Prozent der Wahlberechtigten für ihre Forderung an die Urne bringen. In weniger als eineinhalb Jahren sind so elf Volksbegehren zustande gekommen. Nicht nur den Bürgern, auch für Parteien sind Entscheide zunehmend wichtig. So wundert sich Michael Efler von "Mehr Demokratie" nicht, dass die CDU in Berlin hier ansetzt. "Oppositionsparteien werden dieses Mittel immer stärker nutzen als Regierungen, um auf sich aufmerksam zu machen."
Bundesweit gibt es einen Trend zu mehr Demokratie. Seit Mitte der 90er-Jahre hat sich die Zahl der Bürgerbegehren verdreifacht: von weniger als hundert auf mehr als 300 im Jahr 2007. Die Hälfte endete mit einem Sieg der Initiatoren, bilanziert die Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie an der Uni Marburg. Während es den Machern früher eher um Kampagnen gegen Mobilfunkmasten oder Parkuhren ging, zielen sie heute meist auf die Sicherung von Wasser- und Energieversorgung oder den Bestand kommunaler Wohnungen.
Während Grüne, FDP und Linkspartei Gesetzesinitiativen für Volksentscheide auf Bundesebene vorbereiten, stemmt sich die CDU dagegen. Der Unions-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Volker Kauder, erklärte: "Wir wollen keine weiteren plebiszitären Elemente in die Verfassung einfügen." Die Pressevertreter waren verblüfft. Denn neben Kauder stand Berlins CDU-Fraktionschef Friedbert Pflüger, und beide warben in der Abflughalle des Flughafens Tempelhof für dessen Weiterbetrieb. Hinter diesem Paradox steckt auch die Sorge der jeweils Regierenden vor dem Missbrauch von Plebisziten für populistische und unrealistische Forderungen.
Dabei zeigt ausgerechnet das CSU-regierte Bayern, dass direkte Demokratie nicht zum Chaos führen muss - sondern mehr Stabilität bringen kann. Dort ist die Volksgesetzgebung bereits seit 1946 in der Landesverfassung festgeschrieben. "Der Freistaat war damit im bundesdeutschen Vergleich Vorreiter, wenn es um die Mitbestimmung des Volkes bei der Gesetzgebung ging", erklärt Robert Uerpmann-Wittzack, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht an der Uni Regensburg. Zwanzig Jahre blieben die Möglichkeiten ungenutzt. Seit 1967 gab es dann insgesamt 17 Volksbegehren, die zu fünf Volksentscheiden führten. Dazu kamen sieben Verfassungsreferenden, in denen das Volk über Änderungsanträge der Landtagsmehrheit entscheiden musste.
Als Folge bot die Verfassung in der Tat von Beginn an eine weitreichende Mitbestimmung. Für Änderungen an der Verfassung gilt das sogenannte obligatorische Verfassungsreferendum: Jeder Beschluss des Landtags muss dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden. Streit gibt es allerdings bei der Frage, ob das Volk auch in den Staatshaushalt eingreifen darf. Die Verfassung schließt das eigentlich aus (siehe Kasten).
Den Minister aus dem Amt jagen
Eindeutiger ist die Mitsprachemöglichkeit der Landeskinder beim Absetzen der politischen Führung. Qua Verfassung und "auf Antrag von einer Million wahlberechtigter Staatsbürger durch Volksentscheid" können die Bayern den Landtag und damit auch ihren Ministerpräsidenten abberufen. Diese Waffe kam zwar nie zur Anwendung, unter anderem weil vom Antrag bis zum Entscheid durch verschiedene Fristen 40 Wochen vergehen können. Aber auch die schlichte Drohung funktioniert: Am 16. Januar 2007 kündigten SPD und Grüne an, den damals noch amtierenden Ministerpräsidenten Stoiber mittels Volksentscheid aus dem Amt jagen zu wollen. Zwei Tage später erklärte der Bayern-König seinen Rückzug - sicher nicht nur wegen dieser Oppositionsdrohung, aber mitgerechnet war der Volkszorn sicherlich.
Was bei Einzelbetrachtung nach Revolution klingt, ist über Jahrzehnte betrachtet das Gegenteil, wie der Berliner Politikwissenschaftler Otmar Jung behauptet. Demnach hätten die Mitbestimmungsmöglichkeiten das politische System in Bayern samt seiner CSU-Dominanz stabilisiert. "Indem sie sachlich begrenzt Korrekturen ermöglichte, wirkte die Volksgesetzgebung wie ein Ventil, durch das politischer Druck entwich, was die Regierungspartei objektiv entlastete", meint Jung. Die Stimmung für einen "Machtwechsel" habe dadurch gar nicht erst aufkommen können.
Vielleicht hat auch diese unerwartete Erfahrung die Mitbestimmungsmöglichkeiten in anderen Ländern vorangebracht. Denn der Regensburger Staatsrechtler Robert Uerpmann-Wittzack kommt beim Verfassungsvergleich zu dem Urteil, dass "inzwischen die bayerischen Volksentscheid-Elemente Standard" seien. So seien etwa die recht neuen Regelungen in Berlin den bayerischen durchaus ähnlich, urteilt Uerpmann-Wittzack: "Die Angst vor Fehlentscheidungen des Volkes ist gesunken, und man hat mittlerweile erkannt, dass Volksgesetzgebung kein Teufelszeug ist."
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