Der Trend, beim Cornern vor dem Kiosk statt in der Kneipe Bier zu trinken, ist ein Trend zum Geiz. Dabei gehört Service in Anspruch zu nehmen zu einer Kultur des Abgebens: Mach es nicht selbst
Fremd und befremdlich
KATRIN SEDDIG
Seit Wochen überdenke ich meine Einstellung zum Cornern. Das Cornern ist ein verhältnismäßig neues Phänomen, obwohl es „draußen rumhängen mit Bier“ im Sommer schon so lange gibt – seit es Sommer und Bier gibt. Aber das Cornern findet nicht im Park, auf dem Deich oder überhaupt an landschaftlich reizvollen Orten statt. Das Cornern findet bevorzugt vor Kiosken statt, die Alkohol verkaufen. Dass vor dem Kiosk nichts weiter ist als ein Stück Bürgersteig und ein Stück Straße, spielt für das Cornern keine Rolle.
Ich glaube, die Voraussetzung für einen originalen Corner ist eine gewisse Hässlichkeit. Die Betreiber eines solchen Kiosks müssen etwa im Alter der Eltern der Gäste sein, es muss ein bisschen schmuddelig und neonbeleuchtet sein, es muss eine Atmosphäre der Anspruchslosigkeit herrschen. Ich glaube, das soll Folgendes bedeuten: Authentizität. Der Generation, die cornert, ist Authentizität sehr wichtig. Sie will nicht verarscht werden.
Andererseits müssen sie ihren eigenen Aufenthalt an solchen Orten gleichzeitig auch immer als ein ironisches Statement mitempfinden. Sie kaufen bio ein und leben in Altbauwohnungen mit abgeschliffenen Dielen. Sie leisten sich durchaus etwas, aber sie leisten sich Gegenstände, keinen Service. Serviceleistungen werden in dieser Generation als etwas Lästiges gesehen. „Mach es nicht selbst“, hat Tocotronic gegen diesen Trend gesungen.
Mich nervt das Cornern, aber ich muss mich doch fragen, denn ich will ehrlich mit mir selbst sein, ob das der Neid der Älteren auf die Jugend ist. Die Jugend ist so schlau, dass sie jede Menge Geld spart, indem sie ihr Bier nicht in der Kneipe kauft, sondern für ein Drittel oder Viertel des Preises im Kiosk.
Hat das nicht auch etwas Hippieeskes, dem Kapitalismus ein Schnippchen Schlagendes? Die Kneipenbesitzer sehen das natürrlich nicht so gern. Die Kneipenbesitzer würden diese mittlerweile wie Pilze aus dem Boden schießenden Kioske, die auch schon mal Cocktails hinter dem Zeitungsstand zusammenmixen, am liebsten verbieten. Denn die hippen, jungen Kunden kommen nur zum Pinkeln, weil: eine Toilette hat ein Kiosk nicht. Hoffen wir mal, dass sie zum Pinkeln kommen.
Falko Droßmann, der Bezirksbürgermeister von Hamburg-Mitte, will was gegen das Cornern unternehmen. Er fürchtet, dass St. Pauli kaputtgehen könnte. So schnell geht St. Pauli freilich nicht kaputt.
Aber warum nervt es mich? Wegen des Geizes. Ich finde diesen Trend, genau wie den zu Airbnb und Uber, einen Trend zum Geiz. Die jungen Leute vor den Kiosken sind ja nicht alle arm. Sie halten ein siebenhundert Euro teures Handy an ihr Ohr und trinken ein ein Euro teures Bier. Sie nutzen das Flair und die Toiletten einer Bar- und Kneipengegend, sie umgeben sich damit, aber sie wollen nicht dafür bezahlen.
In Eilbek, zum Beispiel, wird nicht gecornert. Die, die trinkend an der Wandsbeker Chaussee zu finden sind, wissen gar nicht, was das ist. Das Cornern auf St. Pauli ist nur deshalb so beliebt, weil die ganzen Kneipen, Bars, Restaurants nebenan sind. Wenn die aber zumachen, dann wird sich auch keiner mehr vor den Kiosk an der verwaisten Straße stellen.
Wer keinen auf Arbeitnehmern basierenden Service in Anspruch nimmt, wie bei Airbnb, wie bei Uber, wie bei Gastronomie ohne Personal, der wird vielleicht irgendwann feststellen, dass er zu einer Welt beigetragen hat, in der er selbst auch überflüssig geworden ist. Service in Anspruch zu nehmen, gehört zu einer Kultur des Abgebens. St. Pauli lebt von Serviceleistungen. Mach es nicht selbst, sang Tocotronic. Buch einen Handwerker, ein Hotel, ein Taxi, sag ich. Wenn man Geld verdient, soll man es weitergeben.
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Ihre nächste Kolumne erscheint am 31. August.
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