: Der Traktor des Schweinekönigs
Wie ein kleiner Sommerfrischler der Hölle von Mahlum entkam und sich an seinen Peinigern rächte
Sie nannten mich Trotche, Treter-Trotche oder Trottel-Trotche. Sie riefen „Eh, Trotche, hol dir die Pille“, dann schob mir einer der Kelpe-Brüder den Ball durch die Beine, und alles lachte sich kaputt. Die Kelpe-Brüder machten die Kremers-Zwillinge, Matze den Eusebio, der lange Jens gab Overath und Enno, der Erstgeborne von Schweinekönig Ziegenbein, schmiss sich mit einem Original Horst-Wolter-Trikot in den Matsch. Ich war Horacio Troche, der klumpfüßige Uru von Alemannia Aachen, der schlechteste Verteidiger der Welt. Ich kam aus der Stadt, sie waren vom Land. Es herrschte Krieg, ich musste durch die Hölle gehen.
Sie lag in Mahlum am Harzrand zwischen Bornum und Bockenem. Meine Großeltern hatte es nach dem Krieg aus Frankfurt an der Oder in das gottlose Kaff verschlagen. Nun wurden mein Bruder und ich zweimal im Jahr zu Oma zwangsverschickt. „Jetzt geht es in die Sommerfrische“, log Vater ohne rot zu werden, wenn er uns am Beginn der Oster- und Herbstferien in den Bus setzte.
Die 500 toten Mahlumer Seelen hausten vorzugsweise zwischen Jauchegruben, Karnickelställen und Schweinekoben, wenn sie nicht wie der alte Attusch, der vor Jahren seine unterversicherte Kate im Vollrausch abgefackelt hatte, gleich selber drin wohnten. Meinem Bruder machte das nichts. Er saß in seiner Kinderkarre, ließ sich von Oma täglich vom Konsum hinauf zum Friedhof und zurück schieben, kaute Presswurstscheiben, die ihm die dicke Frau Meierbier über den Tresen reichte, und wurde überhaupt den ganzen Tag von den ungewaschenen Dorfmatronen beschäkert und bezutzelt, dass einem schlecht werden konnte.
Mich hingegen trieb die alte Dame auf die endlosen Kartoffeläcker, wo ich im Dienste des Dorfschulzen und Großagrariers Ziegenbein auf Knien herumrutschte und die Knollen per Hand aus der lehmigen Krume kratzte. Die Arbeit an der frischen Luft würde mir gut tun, hatte Vater dekretiert. Gegen Arbeit hätte ich auch nichts gehabt. Aber die einzige Vergütung, die mir für die Schinderei zuteil wurde, bestand aus fettiger Graupensuppe, kaltem Schweinenacken und Schmalzbemmen, die Ziegenbeins Töchterlein Suse jeden Tag zur Mittagszeit in zwei Henkelmännern heranschaffte. Meinen polnischen Arbeitskollegen schmeckte es. Ich kotzte allein schon beim Anblick der plockigen Suppe meine porösen Innereien zwischen die Kartoffelstrünke. War die Fron um drei Uhr beendet, eskortierte mich die männliche Dorfjugend unter Führung des jungen Ziegenbein auf den Sportplatz, um sich bis zum Sonnenuntergang an meiner Unsportlichkeit zu weiden. Und nicht nur das. Sie raubten mir meine Bücher, darunter das Bibliotheks-Exemplar der „Deutschen Heldensagen“, klauten mir die Brille von der Nase und vergruben alles unter Omas Gemüserabatten. Aber das Schlimmste war: Die tumben Gesellen schändeten die erste knospende Liebe meines Lebens.
Sie war entbrannt zu Suse, der blond gelockten Ziegenbein-Erbin, und ich ahnte, dass auch sie, dieser einzige Lichtblick meiner düsteren Ferientage, diese elfengleiche, so Mahlum-untypische Erscheinung, mit Augen so blau wie das Himmelszelt und Lippen so rot wie die Rüben auf Ziegenbeins Plantagen, mir zugetan war. Auf dem Acker meiner Schande hatte mich ihr Blick mehrmals voller Mitleid gestreift. Später schlich ich nach dem Abendbrot auf Ziegenbeins Hof, um sie beim Melken des Rindviehs zu beobachten und ihr beim Herauswuchten der milchsatten Kannen meine helfende Hand zu reichen.
O ja, Suse wusste städtische Galanterie und Hofart zu schätzen. Sie lispelte „Dankßön“, legte ihr Köpfchen auf meine Schulter und so standen wir wohl eine Viertelstunde innig vereint im sinkenden Tageslicht, als Enno, der schändliche Bruder, und die Kelpe-Brüder aus dem Hause traten. Mit den Worten „Trotche, du Arschgesicht“ entriss mir Enno seine Schwester. Dann nahm er mich in den Schwitzkasten, zerrte mich unter tätiger Mithilfe seiner Kumpane in die Scheune und schlug mir ein Auge blau.
Das war eine Demütigung zu viel. Heulend vor Wut und Schmerz stieß ich das schurkische Trio beiseite und sprang auf den Hanomag-Traktor. Ich drehte an der Zündung, trat aufs Gas, der Motor keuchte und ruckte, dann bollerte die riesige Landmaschine auf den Hof, mähte drei Hühner und fast einen der Kelpe-Brüder nieder, rollte auf die Straße, nahm vor dem Feuerwehrschuppen einen Hydranten mit, schabte am Kombi von Bäcker Nolte entlang und schnaufte – ich hatte die Gewalt über das Fahrzeug längst verloren – noch zwanzig Meter den Fußweg zum Friedhof hinauf, ehe der Traktor mit dumpfem Krachen in den Straßengraben kippte.
Ich hatte jetzt zwei blaue Augen, Quetschungen am ganzen Körper und eine Gehirnerschütterung. Aber es war der schönste Tag, den ich je in Mahlum verbracht habe. Und mein letzter. Oma hat sich zwei Monate nicht in den Konsum getraut und sich entschieden weitere Besuche verbeten. MICHAEL QUASTHOFF