: Der Therapeut der Republik
Wehrmachtsausstellung: Wieder mobilisieren die Nazis. Auch gegen den Historiker Hannes Heer. Über einen Altlinken, der nur Wissenschaftler sein will ■ Von Uta Andresen
Sie klatschen. Um den Brief des alten Mannes zu feiern? Weil sie Zeugen einer außergewöhnlichen Szene wurden? Weil sich Staunen irgendwie Luft machen muß, in einer Ansammlung von Menschen?
Er sei derjenige, der diesen Brief geschrieben habe, sagt der alte Mann. Er sei es gewesen, der seinen Eltern 1941 geschrieben habe, daß er froh sei, sie und alle Daheimgebliebenen vor den kommunistischen Untermenschen schützen zu dürfen. Und nun wolle er wissen, wie und warum seine Feldpost in der Ausstellung gelandet sei. Belegten doch diese Zeilen, daß man im Glauben an die gute Sache gekämpft habe. Damals in Hitlers Wehrmacht, im kalten Rußland.
Hannes Heer antwortet – nicht gelassen, sondern maßvoll, so wie der alte Wehrmachtssoldat das Wort an ihn gerichtet hat. Er erklärt Hitlers Lüge vom Präventivkrieg und die spätere Lüge von der sauberen Wehrmacht.
Hannes Heer glaubt, daß für Konservative seine Person ein Affront sei. Ein Altlinker, 58 Jahre, mit Zopf. Doch in der modischen Melange mit Jackett und Krawatte, Uhrkette und Armani-Brille transportiert der Zopf weniger Protestnote als das subtile Signal: Hier kommt ein Intellektueller, ein Künstler.
Die Plastik, die der Künstler hier im Hörsaal der Hamburger Universität so bestimmt dem Publikum zu vermitteln sucht, ist genaugenommen gar kein Kunstwerk. Zumindest nichts, was der Phantasie entwachsen ist: die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Bilder von erschossenen Bauern, von erhängten Partisanen, von erlegten Juden. Massenhaft.
Seit vier Jahren wandern die Stellwände mit den Fotos und Dokumenten, die Hannes Heer mit drei anderen Historikern zusammengestellt hat, nun durch Deutschland. In Hamburg protestierte die CDU. In München marschierten Neonazis. In Saarbrükken detonierte ein Sprengsatz. Seitdem die Hamburger Wissenschaftler an das Tabu Wehrmacht rühren, versuchen Konservative und Rechte, die Ausstellung in Mißkredit zu bringen. Das Nachrichtenmagazin Focus schrieb, Hannes Heer und Kollegen hätten Bilder wissentlich in einem falschen Zusammenhang präsentiert. Hannes Heer wollte eine Gegendarstellung, Focus lehnte ab. Heer zog vor das Bundesverfassungsgericht – und bekam Recht.
Hannes Heer glaubt, in der Öffentlichkeit hätten sich inzwischen „die Fakten durchgesetzt“. Immerhin habe sich die CDU-Fraktion der Hamburger Bürgerschaft dazu durchgerungen, die Ausstellung öffentlich zu begrüßen – nach Niedersachsen das erste Bundesland, in dem solch ein fraktionsübergreifender Beschluß möglich war. Nun kehrt die Ausstellung nach Hamburg zurück, und die rechte Szene ruft zum Aufmarsch.
In dem Hörsaal sagt der alte Mann zu Hannes Heer, daß er „diesen Krieg“ begeistert mitgemacht habe, weil er dachte, „daß er notwendig war“. Von Verbrechen habe er nichts mitbekommen. Erst 1945, in der Kriegsgefangenschaft, habe er davon erfahren.
„Ich glaube alles, was Sie dargelegt haben“, sagt der alte Mann dann. „Ich glaube alles, was Sie gesagt haben“, sagt Hannes Heer.
Hannes Heer hat gelernt. In den vier Jahren, in denen seine Ausstellung lautstarke Proteste provozierte, hat Hannes Heer gelernt, zuzuhören.
Zuhause bei den Heers, im rheinländischen Wissen, muß das noch anders gewesen sein. Der Vater, Förster und Mitglied der NSDAP, verbot dem Sohn 1968 das Haus und dann 1973 noch einmal schriftlich. Geredet haben Vater und Sohn da schon nicht mehr miteinander. Dabei war der Sohn ein braver Junge, der in die Kirche ging, in ein katholisches Jungeninternat, der begeisterter CDU-Anhänger war bis Anfang zwanzig und sich daheim gern die Familiengeschichten erzählen ließ. Wie die vom Vater, als der Schützenkönig wurde. Wie die vom Onkel, der von der SS im April 1945 erschossen wurde.
Sie hörten auf zu reden, als der Sohn zu fragen begann, wie eigentlich genau die Geschichte von den Heers in Wissen und den Nationalsozialisten war. „Völkisch, begeistert“, wie Hannes Heer heute sagt. Und damit waren die Fronten klar. Der Vater ein Nazi, moralisch abgewirtschaftet, bitter. Der Sohn ein Achtundsechziger, die Moral gepachtet, unerbittlich.
1988 hat Hannes Heer einen Film gedreht – über den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in Bonn, über seine damalige Frau, seine damaligen Freunde, also über sich selbst. „Mein 68 – ein verspäteter Brief an meinen Vater“ – mit diesem Film habe er versucht, seinem Vater zu erklären, warum er links wurde und warum er mit diesem Weltbild gescheitert sei. Hannes Heer muß früh bewußt gewesen sein, daß Lebensläufe wie seiner zum Filmstoff taugten.
Studentensprecher in Bonn. Demonstrationen gegen Altnazis unter den Professoren und den Ehrensenator der Bonner Universität, Heinrich Lübke. Deswegen von der Universität relegiert. Wieder aufgenommen, weil er dem Universitätsrichter nachweisen konnte, ein Gutachten für Hitler geschrieben zu haben, aufgrund dessen die Nazis den angeblichen Reichstagsbrandstifter Marinus van der Lubbe exekutieren konnten. Gründer des SDS. Staatsexamen als Deutsch- und Geschichtslehrer 1968. Berufsverbot. VW-Stipendium für Wirtschaftsgeschichte, aberkannt wegen Mitgliedschaft in der maoistischen KPD/AO. Dort Rausschmiß 1974. Rundfunkjournalist. Anfrage im Bundestag, ob bekannt sei, daß Hannes Heer agitatorische Beiträge im WDR absetze. „Da habe ich gedacht: Können die mich nicht in Ruhe lassen.“ Dann Dramaturg, Dokumentarfilmer, heute Historiker. Hannes Heer spricht nur in Stichpunkten, er muß das alles schon x-mal vor sich selbst rekapituliert haben.
„Mein 68“ – fehlte eigentlich nur noch der bewaffnete Widerstand gegen den Staat, der auf die alten Nazikader baute. „Das hätten die gerne gehabt, daß ich zur RAF gegangen wäre“, sagt Hannes Heer. Aber da hatte er längst gelernt, „daß man in diesem Staat etwas bewegen kann“. Hannes Heers Weltbild bekam endgültig Risse, als er begann, Dokumentarfilme zu drehen und wissenschaftliche Aufsätze zu schreiben. Und feststellen mußte, daß das Moralin eines Achtundsechzigers nicht taugte, sich den Tätern des Nationalsozialismus zu nähern.
„Ein Geschenk für Historiker“, nannte Hannes Heer irgendwann diese Berichte von Zeitzeugen, die er nun historisch einzuordnen suchte. Nur wenige Jahre zuvor hätte sich Hannes Heer wohl, wäre er denn alt genug gewesen für das Dritte Reich, im antifaschistischen Widerstand gewähnt. Hätte Briefe, die die Verbrechen akribisch auflisten, aber die eigene Beteiligung leugnen, als Lüge abgetan. Das Leugnen ist das Eingeständnis, glaubt er heute. „Mein 68“ – zu eindeutig, zu einfach. Das sollte der Film dem Vater klarmachen.
Hannes Heer redet zügig, sagt oft „ich zitiere“. Ein Wissenschaftler, der den Ruch des Politaktivisten loszuwerden versucht. Wer die Fakten auf seiner Seite weiß, macht sich unangreifbar. Er erzählt von einer Podiumsdiskussion in Potsdam, die zu einer erregten Debatte über den Kosovo-Krieg wurde. „Das war nicht gut“, sagt Hannes Heer. Zu viele Emotionen auf der Bühne, zu wenige Argumente. Man merkt, ihm war nicht wohl dabei. Kein Raum für Ambivalenzen, zu sehr eine Erinnerung an die siebziger Jahre, als das Weltbild noch durch nichts getrübt werden konnte.
„Es war nicht zu rechtfertigen, aber zu verstehen, warum ich damals so laut rufen wollte“, sagt Hannes Heer. Inzwischen nervt es ihn, wenn, wie an diesem Abend in dem Hörsaal der Hamburger Universität, eine Studentin ruft: „Für euch ist der Krieg doch immer noch nicht vorbei.“ Und damit eine alte Frau meint, die von ihrem Mann erzählt, der Massenerschießungen nie erwähnt habe.
Laut rufen. Das hat Hannes Heer hinter sich. Das tat er 1972, als der japanische Kaiser Hirohito in Bonn zu Besuch war, vor der Brust ein Plakat: „Hirohito war und ist ein Kriegsverbrecher und Faschist.“ Wegen des Schüttelreimes wurde die Demonstration verboten, die Studenten machten weiter, „brachten es zu einem anständigen Ende“, wie Hannes Heer sagt. Das kostete ihn 1.200 Mark. Schon damals hatte er erkannt, daß keine Aktion taugt, bei der nicht die Medien dabei sind. „Da kann man es gleich lassen.“
Die RAF nahm den bewaffneten Widerstand auf, er ging an die Presse. Warum schießen, wenn die Offenlegung der faschistischen Vergangenheit mindestens genauso schmerzt?
Und so scheint die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht nichts anderes als die logische Folge dieser Erkenntnis. Früher waren es selbstgepinselte Plakate, heute von Graphikern entworfene Stellwände. Das zumindest steht fest für jene, die an den Mythos der sauberen Wehrmacht weiterhin glauben wollen, an des Teufels General, oder zumindest daran, daß die anderen noch viel schlimmer waren. Hannes Heer – ein Pamphletist, ein Überzeugungstäter, Nestbeschmutzer.
„Können die mich nicht in Ruhe lassen?“ Das hat Hannes Heer wieder gedacht, als die politischen Gegner seine Biographie hervorkramten, um die wissenschaftliche Arbeit zu desavouieren. Und Publizisten wie Altbundeskanzler Helmut Schmidt schrieben, „die gibt es in jedem Land, die muß man einfach ertragen“.
Und muß einer, der schon an der Uni Nazis jagte, nicht auch damit rechnen, daß sein Werk als politisch motiviert, einseitig abgetan wird? Selbst dann, wenn die Faktentreue der wissenschaftlichen Arbeit von Historikerkollegen nie angezweifelt wurde?
Hannes Heer reagiert auf solche Anwürfe mit dem Stoizismus eines Psychotherapeuten. Die Wehrmachtslüge sei der Gründungsmythos der Republik, ihre Lebenslüge. Und ohne Aufarbeitung sei eine Gesundung nicht möglich. Was er meint, ist die Stabilität der Demokratie.
Aufklärung als Therapie. Dafür bekam Hannes Heer 1997 die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Die Auszeichnung für einen, der es anderen nicht erspart, sich zu erinnern. Hat ihn schließlich selbst genug gekostet.
Das Institut für Sozialforschung – reingelassen wird nur, wem der Termin bestätigt wurde. Man ist vorsichtig geworden, nachdem Institutseigner und Millionär Jan Phillip Reemtsma entführt wurde und unzählige Drohbriefe wegen der Ausstellung eintrudelten. Etwa der an Hannes Heer: „Dir Schwein werden wir die Fresse polieren.“ Man fange an, sich öfter umzusehen, sagt Hannes Heer. Und bekomme Angst vor jeder Plastiktüte. Wie vor der dieser alten Frau in Frankfurt (Main). Sie saß in der ersten Reihe. Die Veranstaltung war überlaufen, der Hörsaal mußte gewechselt werden. Im neuen Raum saß sie wieder in der ersten Reihe, mit ihrer Plastiktüte. Hannes Heer dachte: „Paß auf.“ Doch es war nur das Fotoalbum ihres Vaters, mit Aufnahmen eines Massakers im russischen Bobruisk.
In seinem Büro arbeitet Hannes Heer am Stehpult. Es ist auch schwer vorstellbar, daß dieser Mann, der mehr rennt als geht, ruhig am Schreibtisch sitzen kann. Zu viele Feldpostbriefe, zu viele Fotos, zu viele Anfragen. Neuerdings von amerikanischen Universitäten, die die Ausstellung ab Herbst haben wollen und nach wie vor von deutschen Städten, die nach der Sommerpause ihre Rathäuser öffnen wollen für das unbequeme Ereignis. So schnell wird Hannes Heer an nichts anderem arbeiten. Eigentlich, wundert er sich, müßte die Ausstellung nach vier Jahren Routine geworden sein, langweilig. Aber, sagt Hannes Heer und versucht, es mit Beuys zu erklären: Diese Stellwände seien wie eine „soziale Plastik“, würden erst durch die Begegnung mit dem Besucher lebendig und veränderten sich mit jedem, der mit dem Institut dann Kontakt aufnehme.
Briefe im Postfach, die Heer im Stehen öffnet, Kuverts unter der Tür durchgeschoben. Fotos aus dem Familienalbum, das schwarze Tonpapier klebt noch an der Rückseite. „Tanzende Russinnen“, steht auf dem einen, eine Kirche bei Kiew ist auf dem anderen zu sehen, darunter eine Aufnahme, vergilbt: drei ukrainische Bauern, mit dem Rücken halb zur Kamera, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Im nächsten Bild liegen sie zusammengekrümmt im Schnee. Reiseerinnerungen eines Landsers.
Im Hörsaal der Hamburger Universität ist der Vortrag vorbei. Und wie nach jeder Vorlesung drängen sich die Lernwilligen um den Dozenten, um Beifall zu bekunden, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, ihre eigenen Theorien auszubreiten. In diesem Falle sind es Damen und Herren um die siebzig, die davon sprechen, daß es den gerechten Krieg nicht geben kann, daß Gott mit allen Soldaten sei, daß der Krieg im Kosovo den alten Serbenhaß wiederbelebe.
Der alte Mann mit seinem Feldpostbrief ist längst gegangen. „Wo ist er?“ fragt Hannes Heer. „Ich wollte mit ihm sprechen.“ Jetzt, wo er es doch gelernt hat.
Heer mußte feststellen, daß das Moralin eines 68ers nicht taugte, sich den Tätern des Nationalsozialismus zu nähern
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