: Der Tanne finsteres Gelächter
Karikaturen aus dem Frühwerk Lyonel Feiningers im Ernst-Barlach-Haus ■ Von Petra Schellen
Der kleine Willie war ganz sicher: Die Wintertanne hatte ihn gerade angegrinst. Gegrinst und ge-froren, jawohl! Und dann waren die Bäume alle zusammen schlafen gegangen, die Häuser auch, das hatte man ja deutlich gesehen: Gegähnt hatten sie, wohlig die Augen verdreht; danach waren sie in sich zusammengesunken. Und was noch besser ist: Lyonel Feininger hatte sie auch bemerkt, die Kopfweiden mit gebeugtem Rheuma-Rücken, die nach Klein-Willie riefen, und die Tanne, die mit Schal um den Hals gelacht hatte. Für einen US-Comic-Strip der Chicago Sunday Tribune hatte Feininger die Naturerlebnisse des Wee Willie Winkie gezeichnet, hatte alle Register kindlich verzerrter Wahrnehmung gezogen – lange, bevor er die prismenartigen, transparent schimmernden Gebäude schuf, mit denen er später berühmt wurde.
60 Blätter aus der Sammlung eines ungenannten Privatiers werden zurzeit im Ernst-Barlach-Haus gezeigt – die größte zusammenhängende Sammlung von Originalen jener Karikaturen, mit denen Feininger seine künstlerische Karriere begann. Dem Gelderwerb und erster künstlerischer Profilierung dienten die oft beißend kritischen Zeichnungen, die er zwischen 1898 und 1910 für Satirezeitschriften wie Ulk, Das Narrenschiff und Lustige Blätter herstellte.
Vielfältig waren die Techniken, die er dabei anwandte, vorgegeben – leider – fast immer die Themen: Der Dreibund, die erste russische Revolution von 1904 und der Englische Frieden waren Inhalt seiner Blätter, auf denen zum Beispiel ein hölzern-grobschlächtig grinsender Schatzmeister Austen Chamberlain, ein Skelett am Revers, vorm Resteuropa die Tür verschließt. Anderswo liest ein einsam wachendes Mitglied der II. Internationale während des russisch-japanischen Krieges in einem Traumbuch über das Wesen des Friedens nach.
Zynisch lieblich ist auch das Blatt Ein zerstörter Sommernachtstraum, auf dem – analog zu Shakespeares eseligem König Zettel und der ihn lausenden Titania – der hilflos-jugendliche (13jährige) Alexander von Serbien und seine überlegene Gattin, die neun Jahre ältere Hofdame Draga Maschin, karikiert werden: In Chinoiserie-Rosé und Japanholzschnitt-Schwarz kommt das Blatt daher und ist als fast ovales Achteck gar herzig der traditionellen Rahmenform des Hochzeitsbildnisses nachempfunden; dass der frisch gekrönte König der Esel ist, den die füllige Gattin laust, lässt ihn nicht gerade souverän erscheinen.
Ein wenig scheint hier eine märchenhafte Niedlichkeit auf, die den Kinderbuchillustrationen ähnelt, die Feininger – die Rückkehr in die USA schon vage planend – ab 1892 für amerikanische Verlage schuf: Denn was anderes als ist die politische Karikatur als die Umkehrung der offiziellen Lesart, was anderes als die Offenbarung einer real existierenden Facette, die bis dahin bloß nicht sichtbar war?
Und was anderes tut Willie, wenn er im Felsenschlund ein grausliches, den Bach gierig einsaugendes Breitmaul-Ungeheuer sieht und in den windgebeugten Heugarben krumme Hexen, die zur Walpurgisnacht eilen? Die Grundlage für späteres Satireverständnis legt der Künstler so vielleicht, die Grundlage für die Freiheit, das Personal dieser Welt als wunderlich zu betrachten; bizarrer Realität entspringen auch die zylinderbehuteten Finstermännchen auf dem Holzschnitt Da-Da, die aus einer schwarzen Höhle des Nichts auftauchen, als seien sie just ihren Särgen entstiegen und hätten sich für den Anlass extra fein gemacht.
Und doch genügte Feiniger, dessen Werke 1936 von den Nazis als „entartet“ bezeichnet wurden und der im selben Jahr in die USA zurückkehrte, Karikatur und Illustration bald nicht mehr: Nach der Natur wollte er malen, Menschen, Figuren, Typen in verknappter Form festhalten, wie er es in seinen „Naturskizzen“ tat, in denen er die Figuren fest komplett auf Konturen und markantesten Faltenwurf reduzierte und mit wenigen Strichen gekonnt eigene Kalligraphien schuf. Den Kokotten Ernst Ludwig Kirchners ähnelt etwa Feiningers Pariser Straßenszene mit Prostituierten, die wie puppenartige Eisläuferinnen übers Trottoir gleiten, in der Perspektive gegeneinander versetzt sind und nach verschiedenen Seiten aus dem Bild zu kippend: Ihre Welt ist aus den Fugen, und als erstes aus ihr herausklappen wird das an den Rand gedrängte Kind.
Doch Architektur ist in dieser Phase noch kein Thema für Feininger; artig geradeaus aufgereiht sind die Häuser im Hintergrund – ein Detail, das sich bald ändern wird: Wie gespenstische Tore zu einer anderen Welt wirken die Rundbögen des Viadukts in einer Gouache von 1911, über die – Schwarz vor Dämonischgrün – eine höllenschwarze Dampflok fährt. In welche Zukunft sie rattert, ist ungewiss – aber eins ist deutlich: Besonders gemütlich wird's nicht werden, dort, wohin sie rollt. Vielleicht wird die Zeit – der nahende Erste Weltkrieg – die schon leicht windschiefen, hintereinandergereihten Häuser unter sich begraben – und die Leute mit. Aber Menschen sind in dieser Ära für Feininger sowieso zu Statisten geworden, die keine individuellen Züge tragen, sondern – die Formparallele zwischen Zylinder und Dächern zeigt es – längst zur Dekoration vor dämonisch dominanter Architektur geworden sind.
Bis 29. April, Ernst-Barlach-Haus. Geöffnet Di bis So 11-18 Uhr. Katalog 28 Mark.
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