Der Stolperstein-Hersteller: Verbunden mit den Schicksalen
Mehr als 24.000 Stolpersteine für Holocaustopfer hat Michael Friedrichs-Friedlaender bislang hergestellt. In seiner Metallwerkstatt in Buch schlägt der Künstler jeden Buchstaben einzeln in die Gedenkplaketten - und denkt dabei an die Namensträger
Das Herz der Produktion steht hinten in der Ecke der Werkstatt und ist Michael Friedrichs-Friedlaenders ganzer Stolz: seine selbstgebaute "Schreibmaschine". In einer hölzernen Halterung hängen zwei Reihen Metallstifte mit den Buchstabenstempeln, ein größeres Set für die Namen, ein kleineres für den folgenden Text. Wie rostige Riesennägel sehen sie aus. Beim A, E und S ist der Kopf schon sehr breit geklopft.
Der Rotschopf mit den kräftigen Pranken holt kurz mit dem Hammer aus, ein Schlag, und das R komplettiert die zweite Zeile. "Hier wohnte Karoline Walter" steht jetzt auf der 10 mal 20 Zentimeter großen Messingplatte, die vor der "Schreibmaschine" mit Schraubzwingen festgeklemmt ist. Der korpulente 61-Jährige mit den drei Silberringen im linken Ohr wischt sich die Hände an seinem löchrigen Schlabber-T-Shirt ab, schiebt den Gehörschutz runter und holt vom vollgestellten Kaffeetisch Tasse und Tabak.
Während er sich eine Zigarette dreht, beginnt Friedrichs-Friedlaender zu erklären. "Ein Buchstabensatz hält für 8.000 bis 10.000 Stolpersteine." Den ersten Satz hatte er noch selbst hergestellt vor sechs Jahren, als Metallkünstler war das für ihn keine große Sache. Gut 24.000 Steine hat er seitdem produziert, im Auftrag des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Dessen Kunstprojekt, das vor 15 Jahren mit einer illegalen Verlegung in Kreuzberg begann, ist zu einem regelrechten Unternehmen geworden. 30.000 Stolpersteine wurden seitdem vor allem in Deutschland im jeweiligen Trottoir vor dem letzten Wohnhaus, in dem Naziopfer freiwillig gewohnt hatten, einbetoniert.
Die meisten Gedenksteine wurden in Buch produziert. Rund 100 pro Woche, von Sonntagmorgen bis Freitagabend, acht bis zehn Stunden täglich. "Das ist keine rein mechanische Arbeit", sagt Friedrichs-Friedlaender. "Das geht mir sehr nah. Jeden Tag diese Schicksale zu lesen, das ist hart." Zum Glück habe er abends auf dem Nachhauseweg nach Schöneberg ein wenig Zeit, abzuschalten.
Die Namenslisten bekommt Friedrichs-Friedlaender aus dem Kölner Büro von Demnig, wo die Anfragen von Stadtteilinitiativen, Schulen, Einzelpersonen, Vereinen und Stiftungen eingehen, nachdem sie von der Stadt die Genehmigung für einen Stolperstein erhalten haben. Demnig segnet auch die Texte ab, die auf die Steine gestempelt werden, sagt der gebürtige Münchner, der seit 1978 in Berlin lebt. Zwar beginnt jeder Stein mit "Hier wohnte" sowie dem Namen und dem Geburtsjahr. "Ansonsten unterscheiden sich die Texte aber gewaltig, je nach Opfergeschichte." Ob einer Jude war oder Zeuge Jehovas oder im Widerstand, ob er oder sie ins Gefängnis kam, deportiert wurde, ins Ghetto oder KZ, vielleicht einmal fliehen konnte oder in den Selbstmord getrieben wurde. Ist Letzteres der Fall, steht "Flucht in den Tod" auf dem Stein oder, wenn es ein Kind war, "mit in den Tod genommen".
Das ist am schlimmsten, sagt Friedrichs-Friedlaender: Wenn er die Namen von Kindern "mit dem Handschlagstempel einschlägt", wie es in der Fachsprache heißt. Oder eine Serie für ganze Familien machen muss. Überhaupt sind die Unterschiede in den Texten und den dahinterstehenden Schicksalen wichtig für den Künstler. "Ich bekomme häufig zusätzliche Informationen vom Kölner Büro. Oder ich recherchiere selbst noch etwas im Internet", sagt er. Das macht die Arbeit zwar gedankenschwer und traurig - ist aber auch ein wirksames Mittel gegen die Abstumpfung.
Was ihm zudem bei der Arbeit hilft, sind die Telefonate mehrmals in der Woche mit Gunter Demnig, der ihm Geschichten von den Stolperstein-Verlegungen erzählt. Etwa von einer Veranstaltung kürzlich in den Niederlanden, wo ein Nachfahre einen alten Film gezeigt hat mit den beiden Mädchen, deren Steine verlegt wurden. "Das geht mir sehr nah, wenn man hört, wie positiv die Stolpersteine sind für die Verwandten. Oder wenn Schulklassen einzelne Schicksale recherchieren und einen ganz neuen Zugang zur NS-Geschichte bekommen. Das ist sehr motivierend für mich", sagt er.
Die Begeisterung für das Projekt ist Friedrichs-Friedlaender nach all den Jahren nicht abhandengekommen. Er findet die Idee der Stolpersteine als "soziale Skulptur" hervorragend. Anders als etwa das Holocaust-Mahnmal, zu dem er "überhaupt keinen Bezug hat". Die Ausschreibungsunterlagen für das Holocaust-Mahnmal hatte sich der Metallkünstler damals zwar zukommen lassen - den Gedanken an einen eigenen Wettbewerbsbeitrag aber schnell wieder aufgegeben. "Das kann man nicht als einzelner Mensch in einer Skulptur bewältigen. Und eine einzige Skulptur als Generalentschuldigung funktioniert auch nicht."
Bei Demnigs Projekt ist es anders, weiß Friedrichs-Friedlaender aus eigener Erfahrung: "Es fängt schon damit an, dass die Leute sich verbeugen müssen vor dem Stein, um ihn lesen zu können. Und danach verändert sich ihr Gesichtsausdruck." Das hat er zig Mal beobachtet, etwa bei Schulklassen, die ihn in der Werkstatt besuchen, "und die erst nur das viele Messinggold glänzen sehen".
Die Bewunderung für den Kölner Künstler Demnig ist Friedrichs-Friedlaender ins Gesicht geschrieben. "Demnig lebt dafür, das ist einfach großartig!" Vor lauter Ehrfurcht hatte er bei dem Projekt zunächst auch gar nicht mitmachen wollen. Eine Bekannte von einer hiesigen Stolperstein-Initiative hatte ihn gefragt, ob er nicht die Steine für Berlin machen könne, weil Demnig nicht mehr nachkam mit der Produktion, erzählt er. "Nee, hab ich gesagt. Das muss mich Demnig schon selber fragen. Das ist ein so tolles Projekt, da kann man sich nicht einfach einklinken." Schließlich kam der Kölner tatsächlich nach Buch, im Spätsommer 2005, und gab dem Berliner den ersten Auftrag über 120 Steine. "Nachdem er die gesehen hatte, fragte er mich, ob ich weitermachen wollte." So fing es an.
Heute stellt Demnig nur noch wenige Steine selbst her, meist fährt er herum und verlegt sie. Und Friedrichs-Friedlaender produziert, was das Zeug hält. Pro Stück bekommt er einen Anteil von den 95 Euro, die Demnig für einen Stolperstein von den Auftraggebern nimmt. Davon kann der Berliner leben und seine beiden Mitarbeiter bezahlen. Zu tun gibt es genug: Die Auftragsliste für Oktober enthält allein für Berlin 62 Steine, die Demnig verlegen kommt. Friedrichs-Friedlaender hat auch schon einige Kisten verschickt: mit 72 Steinen für Charlottenburg-Wilmersdorf und 29 für Tempelhof-Schöneberg, die die Bezirksinitiativen bis Jahresende selber in die Bürgersteige einlassen wollen.
Die meisten Steine produziert Friedrichs-Friedlaender für Hamburg und Berlin, in München wurden sie verboten. Kleine Städte in der Provinz benötigen manchmal 20 Steine auf einmal, erzählt er. Und dann kommen seit einigen Jahren europäische Länder hinzu: Niederlande, Belgien, Tschechien, Ungarn, Österreich, Norwegen, Italien, Ukraine. "In Polen gibt es erst einen einzigen Stein." Man wolle dort schon, sagt er und lacht: "Aber die wissen nicht, was tun, damit die Steine in der Straße bleiben. Wegen der Metalldiebe." Sicher ist nur: Wenn die Polen loslegen, hat Friedrichs-Friedlaender bis an sein Lebensende zu tun.
Ohnehin funktioniert das Unternehmen Stolperstein nur mit einer straffen Arbeitsorganisation in der Werkstatt. Fertig gestempelte Messingbleche reicht Friedrichs-Friedlaender an Rainer Schütte rechts neben ihm weiter. Der Rentner klemmt die Bleche in einen Schraubstock, um die Seitenteile umzuhämmern, die das Blech später im Beton festhalten. Sind 28 Bleche zusammen, kommen sie zur Werkbank von Asigora Schweikert, seit fünfeinhalb Jahren zuständig fürs Eingießen, Säubern und Polieren der Steine. Und fürs Korrekturlesen, das hier alle machen. Schweikert drückt die Plaketten mit der Schrift nach unten in die beiden je 14 Steine fassenden Gussformen. Dann gießt er den Beton ein und rüttelt die Formen - "damit eventuelle Blasen rausgehen", erklärt Friedrichs-Friedlaender.
Über Nacht härtet der Beton aus, am nächsten Tag werden die Steine von Schweikert mit einer Spezialpaste gesäubert, noch einmal Korrektur gelesen und poliert. Manchmal entdeckt er tatsächlich noch einen Fehler, dann muss der Stein meist neu gemacht werden. Ganz so selten scheint das nicht zu passieren, neben der "Schreibmaschine" liegen rund 20 fertige Steine. "Alles Ausschuss", sagt der Meister.
Nach dem Polieren werden die Steine verpackt, 18 Stück in einen Karton, 40 Kilo wiegt so ein Paket. "Da ist es ganz wichtig, die richtige Reihenfolge einzuhalten", betont der Chef. Deshalb macht er es lieber selbst. Jede Fuhre für eine Verlege-Tour muss komplett und nach Städten sortiert verschickt werden, damit Demnig sie der Reihe nach ins Auto packen und vor Ort immer den richtigen Karton greifen kann. "Hier liegen schon 14 Pakete für die nächste Tour. Die bring ich persönlich zur Post."
Mit der eigenen Kunst ist es bei so viel Stolpersteinarbeit nicht mehr allzu weit her, gibt Friedrichs-Friedlaender achselzuckend zu. Und führt den Besuch in den Nebenraum, wo zahlreiche Skulpturen vor sich hin stauben: in Metall eingefasste Kopfsteine und aufgeplatzte Eisenquader, aus denen ein Fisch, Schreibfedern, alte Schallplatten oder Buchstaben herausquellen. "Alles starke Dinge, die einen Metallwürfel sprengen können", erklärt der Künstler.
Eine gewisse Ähnlichkeit der Arbeiten mit Demnigs Stolpersteinen ist nicht von der Hand zu weisen. Gut nachzuvollziehen, dass sich die beiden Künstler "auf Anhieb verstanden haben", wie Friedrichs-Friedlaender sagt. Auch deshalb fiel es ihm wohl leichter, die eigene Arbeit hintanzustellen. "Ich leide manchmal sehr darunter", sagt er zwar, ergänzt aber sogleich: "Ich hab mich nun mal für die Stolpersteine entschieden."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung