: Der Staat im Staate
■ Menschenrechte? Wie bitte? Antonio Tabucchi schrieb die Geschichte eines Verbrechens durch die Guardia Nacional Republicana: „Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro“
Der Italiener Antonio Tabucchi, der in Siena portugiesische Sprache und Literatur lehrt, entlehnt den Ausgangspunkt seines Romans einem realen Geschehen: der Mißhandlung und anschließenden Ermordung eines jungen Mannes durch die Guardia Nacional Republicana im Jahr 1996. Seine Leiche wurde damals ohne Kopf aufgefunden, im Roman geschieht das in einem Zigeunerlager am Rande von Porto.
Eindringlich schildert Tabucchi nicht nur den Fundort, sondern auch die gesellschaftliche Verelendung dieser auf der iberischen Halbinsel einst so selbstbewußten und anerkannten Volksgruppe. Der grausige Fund erregt mächtiges Aufsehen in den Medien. Firmino, ein junger Boulevardreporter reist von Lissabon an. Er ist ein Augenblicksmensch, alles andere als ein detektivischer Spürhund, ein Literaturwissenschaftler und Lukács-Anhänger: Eigenschaften, die nicht zusammenzupassen scheinen.
Und doch ist er der „schnellste“ Reporter, der den mit einer Schußwunde gefundenen Kopf des Opfers exklusiv fotografieren und in seinem Boulevardblatt veröffentlichen kann. Aufklärung oder Sensationsjournalismus? So ist das bei Tabucchi: Er legt Spuren scheinbar nur, um sie wieder zu verwischen. Was ist schon eindeutig?
Widersprüchlich ist auch der zweite Hauptprotagonist der Erzählung: Der aristokratische Anwalt Don Fernando, der wegen seiner Ähnlichkeit mit dem englischen Schauspieler Charles Laughton „Loton“ genannt wird, ein Skeptiker, der nur an das „radikal Böse“ glaubt und aus den Essays von Jean Améry und aus Kafkas „Strafkolonie“ zitiert. Er ist reich und damit unabhängig, verschroben, aber juristisch kompetent, dick, aber europäisch gebildet. Also ein Zyniker? Eben nicht. Sondern ein Humanist, Verteidiger der Menschenrechte, Anwalt der Armen. Die beiden ungleichen Ermittler scheinen der Lösung des Falles Schritt für Schritt näherzukommen. Mußte Damasceno Monteiro sterben, weil er einem Heroinhandel auf die Spur kam?
Doch nun passiert etwas Seltsames. Die Handlung kommt kaum noch voran. Das beginnt damit, daß Tabucchi dem Roman den Anschein einer Dokumentation gibt, indem er den Hauptverdächtigen, einen Angehörigen der Guardia Nacional Republicana, in einem direkt zitierten Interview zu Wort kommen läßt. Da prasseln die staatstragenden Phrasen des mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichneten Angola-Veteranen nur so auf den Leser nieder: „Ich habe damals nur meinen Pflicht getan... wir haben das Christentum und die portugiesische Kultur verteidigt. Wir achten das Gesetz und die Verfassung. Wir achten die Bürger. Wir lassen uns keine Übergriffe zuschulden kommen.“ Spätestens hier wird klar, daß die eigentlichen Akteure des Romans nicht Firmino oder Loton heißen, sondern Leviathan in der Gestalt eines Staates im Staate: der Guardia Nacional Republicana, in der sich bis in die jüngste Zeit Praktiken aus der Salazar-Diktatur erhalten haben.
Schilderte Tabucchi in seinem vorigen Roman „Erklärt Pereira“ einen „Aufstieg“ – die Wandlung eines Duckmäusers zum Oppositionellen des Salazar-Regimes –, so beschreibt er diesmal einen „Abstieg“: Unter der Oberfläche des scheinbar intakten demokratischen Portugal der Gegenwart gärt es totalitär und antidemokratisch. Tabucchi und mit ihm eine breite portugiesische Öffentlichkeit waren schockiert, als sich herausstellte, daß im Laufe der Ermittlungen des realen Falles „O decapitado de Sacavém“, der dem Roman zugrunde liegt, weitere zahlreiche Übergriffe der Guardia Nacional Republicana bekannt wurden.
Wie hoch Tabucchi die Gefahr einschätzt, die von solchen „Staat im Staat“-Institutionen, wie es die Guardia Nacional Republicana heute noch ist, ausgehen könnte, ist an einer Passage des Romans deutlich abzulesen: Der flammende Appell des Anwalts, die Menschenrechte zu wahren, den sein junger Mitstreiter während der Gerichtsverhandlung aufzeichnete, wird auf dem Band von Rauschen überlagert und ist kaum noch zu hören. Aber dann taucht ein neuer Belastungszeuge auf. Siegt doch noch die Gerechtigkeit? Tabucchi wäre nicht Tabucchi, wenn er das Ende nicht zweideutig ließe. Bernd Erich Wöhrle
Antonio Tabucchi: „Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro“. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl, Hanser Verlag, München 1997, 256 Seiten, 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen