■ Der Sozial-Etatismus der Linken ist konservativ. Gedanken zur Neubestimmung der Linken: Auf der Suche nach der freien Zeit
Früher konnte die Rechte ihre Einheit retten, indem sie die Modernisierungsstrategie des Kapitals im Namen eines aggressiven und eroberungslustigen Nationalismus unterstützte, der den Zerfall der traditionellen Zugehörigkeits- und Lebenssysteme gewissermaßen durch die patriotische Schwärmerei für die Volksgemeinschaft kompensierte. Man weiß, daß die Sache heute unmöglich geworden ist. Denn die Schwärmerei für nationale Größe, Traditionen und Identität ist heute, statt etwa die kapitalistische Modernisierung decken und kompensieren zu können, zu einer Form von Widerstand und Reaktion gegen diese geworden: gegen die Mundialisierung der Märkte, der Kapitale und der Arbeitsteilung. Chauvinismus, Rassismus, Integrismus, Fremdenhaß, die früher den imperialen Expansionismus eines eroberungslustigen National-Kapitalismus stützen konnten, sind heute rückschrittliche Reaktionen auf einen wesentlich technokratischen und vaterlandslosen Kapitalismus geworden. Dieser Kapitalismus hat für den traditionellen Nationalismus und die militärische Stärke keine Verwendung mehr. Sein Imperialismus hat den technischen Vorsprung, die Eroberung der Märkte und die Kontrolle der Information zur Waffe.
Die Rechte muß Themen finden, wo sich die konservative Rebellion abreagieren und doch der Sache der kapitalistischen Modernisierung gedient werden kann. Sie hat derartige Themen zuerst in Skandinavien, dann in den USA und danach im übrigen Europa gefunden. Es handelt sich namentlich um die Revolte der Steuerzahler, den Antibürokratismus und die Verteufelung der staatlichen Eingriffe.
Diese Themen sind interessant wegen ihrer Ambivalenz. Einerseits haben sie ganz offensichtlich eine neoliberale Dimension. Sie bringen einen ökonomischen Liberalismus wieder zu Ehren, den die Arbeiterbewegung und der Sozialstaat im Laufe von anderthalb Jahrhunderten allmählich eingedämmt hatten. In diesem Kampf um die Einschränkung der Gebiete, auf denen das freie Spiel der Marktgesetze sich entfalten darf, hat sich die Linke konstituiert und entwickelt. Anders gesagt, sie hat dem Walten der ökonomischen Rationalität bedeutende Gebiete (Gesundheit, Bildung, Wohnung, Familie, Alter usw.) entzogen, wo die Prioritäten und Kriterien der Gewinnmaximierung nicht gelten durften.
Der Sozialstaat hat jedoch die Funktionsweise des Wirtschaftssystems und die hegemonische Dynamik seines Rationalitätstyps unangetastet gelassen. Das Eindämmen des Bereichs, in dem sich dieser entfalten darf, beruht ausschließlich auf der Verstärkung der Interventionsbefugnis des Staates. Diese Verstärkung führte nicht zur Entstehung eines anderen öffentlichen Raums, anderer gesellschaftlicher Beziehungen, anderer Lebens- und Arbeitsweisen, in denen eine eigene Rationalität und eigenständige Werte bestimmend wären.
Insofern er auf der verstärkten Herrschaft normierender und formalisierender Administrationen beruht, ist der Wohlfahrtsstaat das diametrale Gegenteil des libertären Strebens nach individueller und kollektiver Emanzipation, welches eines der grundlegenden Kampfthemen der Linken darstellt. Statt die Macht der sozialen Individuen über ihr Leben, über die Ergebnisse und die Weisen ihrer sozialen Kooperation zu erweitern, unterwirft sie der Wohlfahrtsstaat parallel zum Kapital seiner eigenen Macht. Für die soziale Absicherung, die er gewährt, raubt er den Individuen ihren Autonomieraum.
Da sich die konstituierte Linke in einem Sozial-Etatismus festgefahren hat, dessen fiskalische Grenzen ebenso deutlich werden wie seine bürokratischen Belastungen, kann die Rechte das Erbe der Befreiungsbestrebungen der Linken für eine Politik einfordern, die den Wohlfahrtsstaat abbaut, den Steuerdruck mildert, die „dereguliert“ und „dereglementiert“ und die die Entwicklung einer komplexen Gesellschaft den angeblich „neutralen“ und „freien“, weil der Macht und dem Willen der Menschen entzogenen Kräften des Marktes überantwortet.
In einem Kontext, in dem es keine festen Vollzeitarbeitsplätze mehr für alle geben kann, findet eine verblüffende Umkehrung des politischen Koordinatensystems statt: Die Rechte wird die festbeschäftigten, qualifizierten Lohnarbeiter dazu treiben, sich wie eifersüchtige Besitzer des knappen Gutes „Arbeitsplatz“ zu benehmen und sich mit den traditionellen Mittelklassen und dem modernen Unternehmertum zu verbünden, um ihre Arbeitsplätze und ihre Löhne gegen den Druck einer wachsenden Masse einheimischer oder zugewanderter Arbeitsloser sowie einheimischer und ausländischer Konkurrenzunternehmen zu verteidigen.
Die Ideologie der individuellen Leistung des Verdienstes, die Verteidigung des Arbeitsplatzes, die Identifizierung mit der Arbeit sind somit rechte Themen geworden, die es erlauben, Blöcke der Arbeiterklasse für einen neuen national- produktivistischen Bund zugunsten einer liberal-kapitalistischen Modernisierung zu gewinnen. Die alte Linke hat sich einen entscheidenden Teil ihrer Ideologie und ihrer sozialen Basis von Rechten stehlen lassen. Daher die Verwirrung und die Zweifel an der weiteren Gültigkeit der Rechts-Links- Teilung.
Gerade die Autonomie des Subjekts ist nun das Thema, das für die Orientierung nach links heute bestimmend sein muß. Denn die Frage, die sich den postindustriellen Gesellschaften stellt, betrifft die Weise, wie die sich aus den technischen Entwicklungen ergebenden Einsparungen an Arbeitszeit genützt werden wollen. Die konservative Antwort, die die alte Linke und die Rechten gemeinsam haben, besteht darin, auf die grenzenlose Expansion der Sphäre der Lohnarbeit und der Warenwirtschaft zu setzen, um die Lohnarbeitsgesellschaft zu retten und dem Kapital neue rentable Anlagefelder zu eröffnen.
Hingegen wird sich die Linke künftig dadurch als solche bestimmen, daß sie die Einsparungen an Arbeitszeit als Freisetzung von Zeit ansieht, dank derer sich die sozialen Individuen von den im Kapital verkörperten Zwängen der ökonomischen Rationalität emanzipieren sollten. Nicht, indem sie das Kapital und den Bereich der ökonomisch rationalen Erwerbsarbeit abschaffen (wie es sich die Antimodernen und Prämodernen, Kommunisten oder Integristen einbilden), sondern dadurch, daß sie letzteren eine begrenzte Funktion in der Entwicklung der Gesellschaft zuweisen.
Die Potentialitäten der Technik zu nutzen, nicht um die Herrschaft der Apparate über das Leben, die Konsumtionen und die Zeit der Menschen zu stärken, sondern um die sozialen Individuen von den Zwängen der sozialen Megamaschine zu befreien und ihre Macht über ihr eigenes Leben und ihre Entwicklung zu steigern – das sind die Alternativen, die heute die Rechts-Links-Teilung oder, wie Alain Touraine sagt, den „Zentralkonflikt“ bestimmen.
Dieser Zentralkonflikt entwickelt sich auf vielfältigen Gebieten und in vielfältigen Formen. Worum es aber generell immer geht, ist „der Gebrauch, den die Gesellschaft von ihrer eigenen Fähigkeit, auf sich selbst einzuwirken, machen wird“, der Gebrauch, den sie namentlich von der Technik „und den symbolischen Gütern machen wird, die sie massenhaft produziert“. All das ist nicht absolut neu. Auch im Klassenkampf geht es um nichts anderes: „Die Klassen kämpfen um die Verwaltung der Mittel, mit denen die Gesellschaft selbst ,sich produziert‘... Die beherrschte Klasse kämpft für eine ,kollektive Wiederaneignung‘ dieser Mittel.“
Neu ist, daß diese beherrschte Klasse heute überall ist, daß sie nicht mehr durch ihre Stellung im Produktionsprozeß definierbar ist und daß die Mittel, für deren „kollektive Wiederaneignung“ sie kämpft, nicht mehr als Produktionsmittel im klassischen Wortsinn definiert werden können; und zwar aus dem guten Grund, daß die Herrschaft über Menschen sowohl außerhalb als auch innerhalb des Produktionsprozesses, in der Arbeit wie auch im arbeitsfreien Leben, ausgeübt wird. Es gibt einen Zentralkonflikt, aber es gibt keine Hauptfront mehr. Der Kampf um die Wiederaneignung ist wesentlich ein Kampf darum, den (technischen, administrativen, finanziellen, kommerziellen, urbanen etc.) Apparaten Räume, die durch wachsende Produktivität virtuell disponibel werden, zu entziehen und zu untersagen.
Das Kapital und, allgemeiner, den ökonomischen Apparat zu zwingen, die Einsparungen an Arbeitszeit zur freien Verfügung einer Gesellschaft zu lassen, in der die ökonomisch rationalen Tätigkeiten nicht mehr vorherrschen können; für die Erweiterung der Autonomieräume, die den ökonomischen Zwecken und der Warenlogik entzogen sind, zu kämpfen; die ökonomische, die technische, die organisatorische, die urbane usw. Entwicklung auf die Förderung der Wiederaneignung der Zeit, der Lebensumwelt, des Konsumtionsmodells und der sozialen Kooperationsweise durch die Individuen zu richten: das ist in großen Zügen die Perspektive, die sich einer Linken eröffnet, welche es sich zur Aufgabe macht, die emanzipatorischen Potentiale der postindustriellen Zivilisation aufzugreifen. André Gorz
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