Der Soundtrack der 68er-Revolution: Konzeptalben und Drogenmusik
Die Musik zur Revolte speiste sich aus dem Doppeljahr 1967/1968. Wer nur zu "Sympathy For The Devil" den Arsch hochkriegte, war mit Sicherheit ein solcher.
Zwei Zeitschienen haben sich eingeschliffen, sich dem Datum 68 zu nähern; über das Jahr 1967 oder über 1977. Die erste nimmt den Weg über Anti-Vietnamkriegs-Bewegung, Flower Power, Drogen und Summer of Love; den angemessenen also. Die zweite den Weg vom RAF-Terrorismus zurück durch die politischen Verwerfungen der 70er-Jahre, den unangemessenen also, um nicht zu sagen, den idiotischen. Selbstredend wird zweiter häufiger begangen. An die Musik von 68 kommt man nur über den ersten; der Großteil der Musik, die das Jahr 68 bestimmt oder begleitet, ist im Jahr 1967 entstanden, dem musikalisch fruchtbarsten des Jahrzehnts. Auf 68 kann ich mich bei Aufstellung "meiner Charts" also nicht beschränken. Musikalisch haben wir das Doppeljahr einer neuen Entwicklung:
1967/68 erscheinen die ersten vier LPs, die man als Konzeptalben bezeichnen kann: die Bananenplatte von Andy Warhols Velvet Underground, "Sgt. Peppers" von den Beatles, "Their Satanic Majesties Request" von den Rolling Stones, alle 67, und die Doppel-LP "Electric Ladyland" von der Jimi Hendrix Experience, Oktober 68. Auch "Winds Of Change" von Eric Burdon und den Animals geht in die Richtung, ebenfalls 67. Das sind schon mal fünf.
LPs: das Doppeljahr 67/68 macht Schluss mit dem Single-(Un)Wesen. Hendrix war wütend, dass seine Plattenfirma den Titel Crosstown Traffic als Vorab-Single aus "Electric Ladyland" auskoppelte: "Jedes Stück hat genau seinen Platz auf der Platte. Sie koppeln sowieso immer die falschen Tracks aus".
Jede Elvis- oder Chuck Berry-Platte 1956 ff. hatte man zuerst als Single; jedes Dylan-, Beatles-, Stones- oder Hendrix-Stück selbstverständlich als LP.
67/68 war Rockmusik endgültig keine Teenagermusik mehr. Kein einzelnes Stück der "Sgt. Peppers"-LP schafft es mehr in die englischen Charts. Nur mit "Lady Madonna" und "Hey Jude" sind die Beatles dort noch vertreten (nach 17-mal Nr. 1 in den Jahren zuvor). "A Day In The Life", mein Liebling von der Pepper-Platte, war nicht mehr hitfähig:
Sehr witzig. Und geht weiter mit: "Id love to turn you on": Timothy Learys Parole. Alle große Musik von 67/68 ist Drogenmusik unter der Dominanz von LSD. In manchen Fällen Heroin, so bei John Coltrane. Seine letzte LP zu Lebzeiten erscheint 1967 unter dem Titel "Expression"; auch ein Konzeptwort. (Coltrane tot am 17. Juli 1967).
"Dr. Feelgood", Aretha Franklins Hit von ihrer LP "I Never Loved a Man the Way I Love You"), bezeichnet auch nicht einfach ihren Liebhaber. Dr. Feelgood ist der Mann mit der Spritze oder Codewort für den Stoff selber. Zeile: "Dont send me no doctor, whos fillin me up with all those pills". Sie ruft nach anderem Soul-Food. Vier LPs von Aretha bei Atlantic 1967/68, die erste mit dem hybriden Titel "Aretha Arrives. Big black voice from out of nowhere". 68 ist auch das Jahr, in dem die erste Rockband mit einem Stück über eine ganze Plattenseite geht (wie Coltrane mit "My Favorite Things" auf "Live in the Village Vanguard Again", 1967)): das sind Quicksilver Messenger Service aus San Francisco mit "Who Do You Love" auf "Happy Trails", live 1968 Fillmore West. Auf dem Cover winkt ein Pony-Express-Reiter seiner Liebsten mit dem Hut. Superplatte.
Drei Meilensteine: Hendrix "Are You Experienced", 1967 (mit der Zeile: "Music, sweet music, drops from my fingers"), "Axis: Bold As Love", 67/68, mit "Up From The Skies" und "If Six Was Nine" (Eingangsmusik zu Dennis Hoppers "Easy Rider"-Film), und "Electric Ladyland", 25. Okt. 68: "Voodoo Chile (Slight Return)", 1983. ("A Merman I Should Turn To Be"): Hendrix pazifistische Anti-Vietnamkriegs-Hymne. Dylans "All Along The Watchtower" wird zum Hit in Hendrix Version.
Mit "Sgt. Peppers" und "Electric Ladyland" wird die Studiotechnik so dominant, dass viele Stücke auf der Bühne live für die Gruppen nicht mehr spielbar sind. Playback? Wer diese Unverschämtheit besessen hätte, wäre 1968 gelyncht worden.
Fünf Tage nach dem Erscheinen von "Ladyland" nehmen MC 5 am 30./31. Oktober 68 in Detroit "Kick Out The Jams" auf, Live: der erste Schritt in Richtung Punk. Das letzte Stück auf der Platte ist aber ein Sun-Ra-Titel: "Starship", Länge 8:26 Minuten, Synthesizer. Drogenmusik oder Weltraummusik. Alle Musiker scheinen irgendwie unterwegs auf Space Ships (wenn nicht grad in Indien).
Neben Hendrix, der from Mars kommt, besonders Sun Ra, Im from Saturn. 1968 mit der Platte "Pictures Of Infinity", aufgenommen in New York. Seine "Heliocentric Worlds" (zwei weitere Meilensteine im All) waren im Jahr zuvor in Deutschland angekommen. Cecil Taylor, der wahnwitzige Tasten-Perkussionist, steuert "Conquistador!" bei; Blue Note Records tasten sich ins Freie, zwei Bässe hinter Taylors Piano, Henry Grimes und Alan Silva, Form: prinzipiell unbegrenzt.
Ebenfalls in New York 68 spielt Albert Ayler die LP "New Grass" ein, mit elektrischem Bass und Rockdrummer Bernard Purdie. Aylers Stücktitel "Music Is The Healing Force Of The Universe" kann als Transparent über diesen Jahren stehen. "Free At Last" heißt das programmatische Stück von New Grass, Vocal: Mary Maria Parks. Jazz und Rock übertreffen sich gegenseitig im Entwickeln freier Formen; und - free at last - überschneiden sich zunehmend. Ein Jahr später wird Miles Davis auf der Matte stehen mit "Bitches Brew", drei E-Pianos, E-Gitarre und E-Bass, inspiriert von der Jimi Hendrix Experience. Bestes Stück: "Spanish Key", 18 Minuten, tanzbar, bewährt als Soundtrack zur Morgengymnastik. 1968 steuert voll zu auf Fusion. In psychedelisch-sphärischen Welten ebenfalls Pink Floyd, "The Piper At The Gates Of Dawn", 1967, und "A Saucerful Of Secrets", 1968.
Man kann sagen, Britain und USA halten sich die Waage, außer im Jazz, da sind es Amerikaner: Aber Sun Ra, Cecil Taylor, das Art Ensemble of Chicago werden in Europa populärer als in Amerika durch ihre Tourneen 1967/8; die besten Plattenaufnahmen des Art Ensemble passieren alle in Frankreich oder Italien 1969.
Auf "Their Satanic Majesties Request" von den Stones findet sich im Stück "Gomper" eine Perkussionsimprovisation, die auf jeder Free-Jazz-Platte Platz fände. (Brian Jones!) Selten gehörte Musik von den Stones. 1968 natürlich aber auch die dauergehörte "Beggars Banquet".
Eine wunderschöne Version von "No Expectations" mit einem hinreißend jungen Mick Jagger findet sich auf der DVD "Rock n Roll Circus", aufgenommen 1968 in einem Londoner Zirkuszelt; dazu "Sympathy For The Devil" (als exorzistischer Akt) und "Yer Blues", gesungen von John Lennon, mit Keith Richards und Eric Clapton an den Gitarren. "Yer Blues" vom Weißen Album der Beatles, Ende 1968; darauf neben viel Schwachem das sehr schöne "Blackbird" ("Singing in the dead of night"). Das ruft nach den Doors, ihren Abgesängen auf eine Ära, die Aufbruch und Ende zugleich scheint: "The End" von der LP "The Doors" und "When The Music Is Over" von "Strange Days", beide 1967. Stücke, die durch die Gedichte Rolf Dieter Brinkmanns geistern, der bald darauf vor ein Auto läuft. Nicht weit weg von Waterloo Station, besungen von den Kinks 1967 in "Waterloo Sunset".
Damit sind die zwanzig LPs ungefähr voll. Worum es in all ihnen geht, ist am schönsten besungen von den Velvet Underground, Lou Reed/Nico auf der Bananenplatte, "Sunday Morning". Uhrzeit? Sonntagmorgen: "Its just the wasted years so close behind" - sowie von Eric Burdon, paradigmatisch, in "Good Times": "When I think of all the good times that Ive wasted having good times." - Das, was ich hier tue, reine Zeitverschwendung - "When I was drinking / I should have been thinking / When I was fighting / I could have been writing." "Good Times" auf Burdons Winds of Change. "Change". Klingt irgendwie vertraut. Hillary. Obama. Wir wollen den Wechsel na denn man toh. (Is Plattdütsch und heißt so viel wie "na dann viel Spaß", oder eben: dann macht mal; dann man zu.)
Das Glück könnte sein, dass grad die wasted years gut weitertragen. Wer was zu verschwenden hat, kriegt was zurück. Geiz ist der Tod.
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