■ Der Schuhhersteller Salamander will von ZwangsarbeiterInnen wie Vera Friedländer nichts gewusst haben. Doch die 71-jährige Berlinerin kann belegen, dass sie in einer Werkstatt der Firma Schuhe reparieren musste. Und sie beschreibt diese Zeit:: „Die Zeit heilt nicht alle Wunden“
Mein Verpflichtungsbescheid wies mich zur Salamander A.-G., Reparatur-Betrieb, Berlin SO 36, Köpenicker Str. 6a–7. In einem Fabrikgelände auf einem Hof in der Nähe der Warschauer Brücke verbrachte ich von nun an die Tage.
Ich stand vor schweren Karren auf eisernen Rollen, die plumpen Regalen ähnelten. Auf ihnen wurden die Schuhe zwischen den Arbeitsplätzen hin- und hertransportiert. Von links wurden mir die Karren zugeschoben, beladen mit getragenen, zertretenen, verschwitzten Schuhen. Sie waren reparaturbedürftig, und ich hatte zu prüfen, welche Reparatur zu machen war. Ich musste die Schuhe in die Hand nehmen, den Schaden bestimmen und die Paare in andere Karren umsortieren: zum Steppen, zum Kleben, zum Besohlen und so weiter. Wenn ein Karren voll war, schob ich ihn dorthin, wo gesteppt, geklebt oder genagelt wurde.
Den Gang zu meiner Rechten beherrschte eine Frau. Sie trug immer einen biegsamen Stock bei sich, um auf Schuhschäden zeigen zu können, ohne die Schuhe anfassen zu müssen. Sie trug den Stock wie ein Dompteur seine Peitsche. Die Aufseher waren SS-Leute, auch die Frau zur Rechten.
Sie wachten darüber, dass wir nichts anderes taten als arbeiten. Wir, das waren polnische Schuster, Frauen aus Serbien, französische Arbeiter, jüdische Frauen, Mädchen wie Hannchen und ich.
Niemand durfte mit niemandem sprechen. Wer bei der Arbeit sitzen musste, durfte nur sitzen. Wer zu stehen hatte wie ich, durfte nur stehen. Schläge hatten wir nicht zu fürchten, aber stets gegenwärtig war die Drohung, man werde uns ins Lager schicken so wie das Mädchen, das vor mir hier die Schuhe geprüft und die Karren geschoben hatte.
Das SS-Weib hatte sich für uns etwas ausgedacht: Viele Schuhe hatten über der Naht am Hacken einen schmalen Lederstreifen, der aufgesteppt war, sich aber nach längerem Tragen löste. Dann wurde er wieder angeklebt, mit einem Leim, der Ago hieß. Ich musste prüfen, ob die Steppnaht noch fest war. Dazu benutzte man normalerweise ein Werkzeug, das wie ein abgebrochenes Messer aussah. Ich dachte, die Aufseherin würde mir das Werkzeug geben. „Los, fang an!“ – „Womit denn?“, fragte ich. „Hast du keine Fingernägel?“ Ich zog also einen Fingernagel unter einem Lederstreifen lang und prüfte seine Festigkeit. „Na bitte, wie gut du begreifst.“ Die Gemeinheit wurde mir nach wenigen Stunden bewusst.
Als ich merkte, dass sich meine Fingernägel abnutzten und die Haut wund wurde, wechselte ich die Finger und schonte die wundesten. Ich wechselte zu schnell, so dass alle entzündet waren. Dann hantierte ich nach Plan: Ich benutzte immer nur einen Finger je Tag. Drei Tage hielt ich es durch, dann wechselte ich doch wieder schneller. Nach kurzer Zeit war das Weiße der Nägel abgewetzt, der Hautansatz schwoll, rieb sich durch, verschmutzte und fing an zu eitern. Meine Fingerspitzen waren eine verquollene Masse. Fast alle Schuhmacher in der Halle waren Polen. Einer von ihnen, Jacek, schob die Karren zu mir, wenn ein neuer Schub kam oder wenn die Reparaturen ausgeführt waren: die Karren von den Ago-Klebern nahe der Treppen ebenso wie die Karren mit den gesteppten, besohlten, genagelten oder geklebten Schuhen von anderen Plätzen der Halle. Jacek hatte mit mir noch nicht viel gesprochen. Nur am ersten Tag. „Ich bin Jacek. Und du?“ – „Vera.“ Jacek war vorsichtig. Nicht wegen des Sprechverbots. Mir traute er nicht.
Nachdem Hannchen und ich vor dem SS-Mann gestanden hatten, fragte Jacek, während er mir einen Karren hinschob: „Warum bist du hier?“ – „Ich bin zwangsverpflichtet.“ Das muss ihm nicht viel gesagt haben. Als er den nächsten Karren brachte, fragte er wieder: „Warum bist du hier?“ –„Weil ich Halbjüdin bin.“ –„Ich verstehe nicht. Jüdin oder nicht Jüdin? Was ist halbe Jüdin?“ –„Meine Mutter ist Jüdin. Mein Vater ist Christ.“ Länger konnte er sich nicht aufhalten, die Aufseherin kam näher. Aber beim nächsten Karren stellte er wieder eine Frage: „Du – Deutsche?“ – „Ja.“ Und wieder: „Aber warum hier?“ Wie sollte ich Jacek erklären, warum ich hier war? Ich verstand es ja selbst nicht. Mehr als einen Monat unterhielt ich mich auf diese Weise mit Jacek, dem polnischen Schuhmacher. Wir führten Kurzdialoge in Fortsetzungen. Es gingen Gerüchte durch die Halle von Salamander, dass die deutschen Frauen nach Ostpreußen geschickt werden sollten, um Schützengräben auszuheben. Dann hieß es: Hinter die Oder. Wir waren zwölf Frauen. Außer Hannchen und mir waren es mit arischen Männern verheiratete Jüdinnen.
Mittags in der Kantine, als wir unsere Suppe löffelten, bestellte mir Hannchen: „Die Frauen sagen, wir beide würden als erste merken, wenn sie uns holen wollten. Wir haben den Halleneingang im Blick, und wir sollen ein Zeichen geben, wenn wir was merken.“ – „Wozu? Weglaufen kann hier niemand.“ – „Trotzdem. Versprich es. Sie fühlen sich dann ruhiger, sagen sie.“ – „Gut. Ich passe auf.“
„Vera, wenn sie uns holen, wir bleiben immer dicht zusammen, ja?“ Ich fasste Hannchen um die Schultern. Es tat gut, einen Menschen zu fühlen. „Wenn wir nicht mehr nach Hause können, das wird schwer, Hannchen. Jetzt, bei der Kälte, Gräben buddeln. Wir müssen uns was ausdenken.“ – „Wir ziehen ab morgen alles doppelt an, Strümpfe, Hemd, Schlüpfer. Und in den Beutel, den wir unten abgeben müssen, packen wir einen Pullover und was wir unbedingt brauchen.“ – „Kernseife und was zum Nähen.“ – „Hauptsache, wir bleiben zusammen“, schloss Hannchen das Gespräch.
Die einzige Erholung war die Mittagspause. Wir bekamen eine warme Suppe mit Kartoffeln oder Nudeln. Die Suppe und die Fahrkarte für die Straßenbahn waren unser Lohn. Jeden Mittag gingen wir in einen Raum, der als Kantine hergerichtet war. Immerhin, wir konnten uns auf Bänke setzen und unsere Schüsseln auf Tische stellen. Hier durften wir, die Deutschen, miteinander sprechen. Zu den Männern und Frauen, die mit einem Stoffschild an der Jacke als Ostarbeiter gekennzeichnet waren, war uns auch hier der Kontakt untersagt.
Zu der Kantine gelangten wir durch einen fensterlosen Gang. Er hatte zwei dunkle Nischen, auf die die SS besonders achtete. Dort saßen sowjetische Gefangene auf dem Boden. Sie wurden in diese Nischen geführt, bevor wir den Gang passierten, und sie saßen auch noch dort, wenn wir in die Halle zurückgingen. In diesen Nischen saßen sie und aßen Pellkartoffeln. Jeder hatte eine Handvoll davon, nichts weiter. Tag für Tag das Gleiche. Sie aßen sie mit Schale, und ich wünschte nur, dass die Kartoffeln wenigstens heiß wären. Für uns gab es immerhin die Kantine mit Tischen, Bänken und Fenstern, mit Schüsseln und Löffeln. Wir gingen an diesen Männern vorbei und wussten nichts über sie. Man ließ sie nicht aus den Augen. Welche Arbeit sie für Salamander machen mussten und wo sie arbeiteten, habe ich nie erfahren.
Wem gehörten diese Schuhe bei Salamander eigentlich? Es musste in Berlin viele ziemlich naive Menschen geben, die ihre Schuhe – zu der Zeit eine unersetzbare Habe – einer Reparaturannahmestelle übergaben und damit rechneten, sie repariert zurückzuerhalten. Und wo waren die Annahmestellen von Salamander? Die Leute, die ihre Halbschuhe zur Reparatur gaben, schienen auch keine besonderen Wünsche gehabt zu haben. Und die Leute, die sie bedienten, gingen recht sorglos mit den abgegebenen Schuhen um. Sie markierten keinen Schuh, keiner war mit einer Nummer, mit einem Schildchen oder Stempel versehen, wo doch die Schuhe durch die ganze Stadt gefahren und wieder zurückgebracht werden mussten, denn die Besitzer würden sie doch wiederhaben wollen. Wo gab es diese Kunden? Woher kamen die Schuhe, und wohin gingen sie?
Mag sich in unserer Zeit, Jahrzehnte danach, Salamander-Schuhe kaufen, wer will. Ich jedenfalls, das ist sicher, werde keine Schuhe mit diesem Namen tragen. Ich muss, wenn ich diesen Namen höre, an die Schuhe ohne Besitzer denken. Es stimmt nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt.
Vera Friedländer Der Text ist die gekürzte Fassung des Kapitels „Salamander“ aus dem Buch „Man kann nicht eine halbe Jüdin sein“, Agimos Verlag, Kiel 1986, 25,80 Mark.
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