: Der Schein des Seins
■ Was viele nicht wissen oder glauben: Auch in Ungarn gibt es frenetische Anhänger des Pop-Idols Michael Jackson, bei dessen Anblick auch sie in Ohnmacht sinken
Jetzt sitzt mein ungarisches Ferienkind Andrea wieder mit Kopfhörern auf der Terrasse und hört ihre Michael-Jackson -Casette und liest in „Popcorn“. Seit sie ihren Star im Volksparkstadion live erlebt hat, ist sie ein noch begeisterterer Jackson-Fan als vorher. Als ich die Karten für das Konzert besorgte, wußte ich nicht, daß Andrea schon seit einem halben Jahr alles über Jackson sammelt, was ihr in die Finger kommt ich habe vor allem gedacht, daß die westliche Supershow das Mädchen aus dem Osten beeindrucken würde; denn ich weiß, daß sie gern ins Kino geht und Video guckt: E.T., Schneewittchen oder Rambo. West-Pop und Teenager-Zeitschriften werden von ihr verschlungen. Für mich offenbart sich in dieser Liebe zum West-Pop die Diskrepanz im Ostblock-Alltag: Der Anspruch der Ideologen steht gegen den Wunsch der Bevölkerung nach einem anderen, besseren Leben.
Ich war gespannt, was Andrea zu der Jackson-Show sagen würde, hatte erwartet, daß sie staunen würde über die Menschenmassen und den technischen Aufwand. Aber da Andrea Jackson so rückhaltlos verehrt und bewundert, hatte sie wohl nur Augen und Ohren für ihren Star und war ein Fan wie alle westdeutschen Mädchen um uns herum. Die Begeisterung des Publikums war grenzenlos und unbeeinträchtig von Regen und Gewitter, die Stimmung war angenehm und harmonisch - wenn die „mexikanische Welle“ durch das Stadion lief, und wenn in dem weiten Oval die Feuerzeuglichter aufflackerten. Allerdings: Wenn die Tribüne beim rhythmischen Klatschen anfing zu schwingen, dann hatte ich schon meine Bedenken, ob und wie man/frau notfalls hier schnell herauskommen sollte. Und der Polizistenblock auf den Rängen der Nordkurve weckte Gedanken an den „Hamburger Kessel“. Was sollte er? Die ohnmächtigen
Fans wurden doch von privaten Ordnern aus dem „harten Kern“ vor der Bühne herausgezogen - verlorengegangene Schuhe flogen hinterher - und von Sanitätern zu den „Erste-Hilfe -Zelten“ gefahren.
Hübsch sah's aus, wenn im patschnassen Innenraum Menschen tanzten. Nach einem besonders frenetisch aufgenommenen Song fragte ich das Hamburger Mädchen zu meiner Linken nach dem Titel. Sie sah mich ganz verwundert an: „Dirty Diana“! Den Text habe ich mir in einer von Andras alten „Bravos“ durchgelesen. So
was könnte jeder schreiben; Immerhin schreibt Jackson seine Texte selber. Die Show war perfekt, und tanzen kann der Junge!
Hernach im Auto hat Andrea geweint. Warum? Sie wußte es nicht zu sagen. War's, weil sie nicht unten in der Menge vor der Bühne gestanden hatte und ihn nicht anfassen konnte? Die Star-Verehrung ist schon etwas sehr Unbefriedigendes. Was bleibt, ist Leere, und die wird aufgefüllt mit Erinnerungen wie Cola-Bechern mit dem Aufdruck: „Michael-Jackson-Tour 88“.
Ilse Pfefferle-Windhoff
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