Der Schatzmeister der Sprache

■ Prof. Dr. Lutz Mackensen (90) über die Abenteuer des Wörterbuchs und der Zettelkästen, über das Komma und den Geschmack

Prof. Dr. Lutz Mackensen ist so etwas wie der Schatzmeister der deutschen Sprache. Sein Leben lang hat er Wörterbücher geschrieben, Redensarten und Sprichwörter gesammelt und Fremd-und Fachwortschätze aufgetürmt. 1956 hat er in Bremen das Institut für deutsche Presseforschung aufgebaut und bis 1969 geleitet. Seine ersten Stationen waren die Universitäten von Riga (ab 1932), Gent (1940) und Poznan im heutigen Polen (1941 bis 1945). Wir sprachen mit ihm in seinem Borgfelder Landhaus.

taz: In einer Pressemeldung zu Ihrem 90. Geburtstag heißt es: „Ab 1945 entfiel eine weitere universitäre Lehrtätigkeit.“

Lutz Mackensen: Ja, wer 90 ist, muß wohl ehrlich sein. Ich war Nazi. In Riga bin ich Nazi geworden. Das habe ich getan, und es war falsch. Ich habe mich 1945 aus meiner Laufbahn zurückgezogen und habe mich auch nirgends mehr beworben. Ich habe mir gesagt, ein Professor ist ein Bekenner. Wenn ich etwas Falsches bekannt habe, habe ich das Recht auf zukünftige Ausübung dieses Bekennertums verloren.

Dann sind Sie auf die Wörterbücher gekommen?

Eines Tages, als unser Erpartes schon zur Neige ging, las ich eine Anzeige, in der ein Autor für ein Wörterbuch gesucht wurde. Da habe ich mich gemeldet. Und nach sechs Wochen meldete sich

„Ich hatte nur meine Ideen, meine Zettel und Tinte. So bin ich der Lexikograph dieser Generation geworden.“

plötzlich ein Verleger, der aus Leipzig, aus der DDR emigriert war, und der eine Reihe „Bücher für das deutsche Haus“ schaffen wollte. Ich sagte zu und fing an. Und nach drei Monaten kam er an und fragte, wie weit ich wäre. Ich sagte, bei D. Da antwortete er, in zwei Monaten müsse ich fertig sein, und was es koste. Ich sagte: unser Leben. Essen, Miete, Bier,

„In Riga bin ich Nazi geworden. Ich habe es getan, und es war falsch.“ Lutz Mackensen in seinem Arbeitszimmer.Foto: Jörg Oberheide

Zigarren. Da rannte er eine halbe Stunde durch unser Zimmer, warf am Ende seinen Bleistift auf den Tisch und sagte: Ich mach's.

Und Sie?

Ich habe mich zurückgezogen auf das Besitztum eines Schülers oberhalb von Berchtesgaden und habe das Wörterbuch in vier Monaten geschrieben. Und siehe da, es wurde ein Erfolg. Andere Leute kamen an und wollten auch Wörterbücher. Und so bin ich der Lexikograph dieser Generation geworden.

Wie schreibt man Wörterbücher in den Bergen?

Ich bin, glaube ich, der letzte Mann, der wie Hieronymus im Gehäuse gearbeitet hat. Ohne fremde Hilfe, ohne Apparatur. Ich hatte nur meinen Kopf und meine Zettel und Tinte. Und das,

hierhin bitte

das Foto von dem

alten Männerkopf

mit Brille

was andere vor mir schon gesammelt hatten.

Jetzt haben fast alle den einen oder anderen „Mackensen“ zuhause. Wissen Sie, wie hoch Ihre Gesamtauflage ist?

Das weiß ich nicht.

Es ist doch wohl eine Sisyphus-Arbeit, die Sprache, noch während sie gebraucht wird, vollständig in Zettelkästen unterzubringen. Hatten Sie manchmal Angst, nicht mehr nachzukommen?

Nein. Nachdem ich die Arbeit einmal geschafft hatte, waren alle folgenden ja Varianten. Gestern zum Beispiel haben wir hier in diesem Zimmer beschlossen, ein „Gesamtdeutsches Wörterbuch“ zu machen! Das Abenteuer ist zu schaffen. Ich hoffe, noch so lange zu leben.

Was halten Sie vom Duden?

Der wird immer fragwürdiger. Der hat eine normative Haltung, die wir Deutschen nicht ertragen. Duden verlangt Unterwerfung. Es gibt aber zum Beispiel 250 orthographische Zweifelsfälle. Die würde ich den Jungs und Mädels freistellen! Ich würde nur verlangen, daß sie drüber nachdenken. Warum die eine Schreibung und nicht die andere.

Und die Interpunktion? Die Kommaregeln zumal!

Ach, das ist der Teil der Rechtschreibung, der am meisten dem persönlichen Geschmack unterliegt!

Schön zu hören von einem Spezialisten. Sie haben sich aber nicht nur mit Rechtschreibung beschäftigt, sondern auch früh schon mit den Anfängen der Publizi...

Nein, hab ich nicht. Da will ich ganz offen sein. Ich bekam eine Anfrage aus Bremen, wo ich keinen Menschen kannte, ob ich nicht einen kleinen Vorrat von Zeitungen des 17. Jahrhunderts vermehren wolle. Eigentlich wollte ich nicht. Ich hatte mich nie mit Zeitungsgeschichte beschäftigt. Und hier fand ich, auf Mikrofilm, ganze 10 von den 700 deutschsprachigen Zeitungen dieses Jahrhunderts vor. Nun ja, das ist ein bißchen heikel. Nach Bremen gelockt hat man mich letzten Endes dadurch, daß der Unterhändler des Senators mir ein Haus versprochen hat. Sie müssen sich vorstellen, ich war Flüchtling. Aber es ist eine ungeheuer interessante und lebendige Zeit geworden. Und ich habe das Institut universitätsreif gemacht.

Immer wieder hat man Sie um Arbeiten gebeten, die Sie von vorneherein gar nicht beherrschten. Warum? Haben Sie eine Theorie?

Hab ich (lacht), aber da rede ich nicht drüber. Wissen Sie, ich bin noch im Sinne Jacob Grimms erzogen worden. Ein anständiger

„Der Duden wird immer fragwürdiger. Er verlangt Unterwerfung. Ich würde all die Zweifelsfälle den Jungs und Mädels freistellen.“

Germanist hatte das alles zu können. Er beherrscht die Methode. Für die einzelnen Themen muß er sich nur begeistern können. Und ich, ich habe den ganzen Bogen umschreiten dürfen. Wobei die Exaktheit, die Genauigkeit im einzelnen vielleicht fehlte. Bloß: Das ist jederzeit nachzuholen.

Aber gesammelt haben Sie immer. Schon früh? Als Kind?

Nein. Das war auch nie mein Vergnügen, es war lästige Vorarbeit.

Und das Vergnügen des Findens? Es gibt doch von den allerersten Zeitungen nur sehr wenige Exemplare.

Hoffmann von Fallersleben fragte mal in Lille, ob sie althochdeutsche Lieder hätten. Die Antwort war: nein. Da sagte er: Erlauben Sie mal! Und griff hinter eine Bücherreihe und hatte das „Ludwigslied“. Von diesem Finderglück waren auch wir ein wenig begünstigt. Ich hatte da eine Dame als Mitarbeiterin, die hat zum Beispiel den Schweizern, ohne es je studiert zu haben, ihre Pressegeschichte aufgebaut. Aus reiner Freude am Finden.

Zur Zeit arbeiten Sie an einer Geschichte des Begriffes vom „Volk“.

Das Manuskript ist druckreif.

Haben Sie ein „Volk“ gefunden?

Ich habe nur herausgefunden, daß „Volk“ immer bloß eine Utopie war. Sehr schmerzhaft für mich. Ein Verlangen nach Einigkeit. „Nation“ haut hin, „Staat“ auch. „Volk“ haut nicht hin. Interview: Manfred Dworschak