Der SS-Mann aus dem Ruhrgebiet: Versteck hinter Spitzengardinen
1945 soll der damalige SS-Mann Adolf S. in Österreich an der Ermordung von mindestens 57 Juden beteiligt gewesen sein. Bis heute lebt er unbehelligt im Ruhrgebiet.
Moritz Klein hielt sich in einer Scheune versteckt, wo er die Dunkelheit abwarten wollte. Es ist Ende März 1945, in Österreich, unweit der ungarischen Grenze. Nachts kann Klein bereits den Donner der sowjetischen Artillerie von der Front hören; am Tag hebt er immer noch Gräben gegen die Panzer der russischen Truppen aus. Klein gehört einer jüdischen Arbeitskompanie an. Es sind etwa hundert ungarische Juden, die nach zwei Jahren schweren Hungers, harter Arbeit und unerbittlicher Märsche durch ganz Ungarn den Nazis in Österreich übergeben wurden.
Klein und seine Kameraden wissen es nicht, aber sie sind dabei, späte Opfer des Holocaust zu werden. Während sie in einer Lagerhalle in dem österreichischen Städtchen Deutsch Schützen gefangen gehalten werden, ist Auschwitz befreit, Majdanek entdeckt und Budapest von den Russen erobert worden. Überall an der ehemaligen Ostfront tauchen überlebende Juden aus den Wäldern, ihren Verstecken im Untergrund oder den Baracken der Konzentrationslager auf. Für die jüdischen Zwangsarbeiter sind dies kritische Tage.
Klein entscheidet sich spontan für die Flucht. Beim Morgenappell zur Arbeit erscheinen zwei Angehörige der Hitlerjugend. Beide tragen ein Maschinengewehr über der Schulter. Sie sprechen kurz mit dem deutschen Kommandanten, der daraufhin den Appell abbricht und den Juden befiehlt, sich in Dreiergruppen aufzustellen. "Wir marschieren sofort nach Westen", ordnet er an. Klein weiß nichts über die systematische Ermordung der Juden durch das Naziregime. Er hat noch nie von Konzentrationslagern gehört. Aber in seiner Vorstellung - eines jüdischen Jungen, der in den russischen Karpaten aufwuchs - bedeutet weiter "nach Westen" in Österreich nichts Gutes. Hitler ist Österreicher, denkt er.
Adolf S., 90, ist des Mordes an 58 jüdischen Gefangenen in Österreich während des Zweiten Weltkriegs angeklagt. Die Anklage, vertreten durch Oberstaatsanwalt Andreas Brendel von der Dortmunder Staatsanwaltschaft, liegt derzeit beim Landgericht Duisburg. Der Vorsitzende Richter Schwartz ordnete bereits im Januar eine medizinische Untersuchung der körperlichen Verfassung von Adolf S. an, um dessen Verhandlungsfähigkeit feststellen zu lassen. Bis heute liegen keine Ergebnisse vor. Die Pressestelle der Duisburger Landgerichts teilte mit, dass "es kein Datum gibt, bis wann die Untersuchung abgeschlossen sein soll".
Anders als im Fall des gebürtigen Ukrainers John (Ivan) Demjanjuk, der zurzeit in München vor Gericht steht, hat die Dortmunder Staatsanwaltschaft keinen Haftbefehl für Adolf S. beantragt. Der ehemalige Bahnangestellte Adolf S. lebt in einem Vorort von Duisburg. Laut dem Historiker Walter Manoschek, der ihn aufspüren half und persönlich traf, leugnet S. nicht, der SS-Panzerdivision Wiking angehört zu haben und in der Zeit des Massakers in Deutsch Schützen gewesen zu sein. S. behauptet, er könne sich nicht erinnern, wo er sich an jenem Tag aufgehalten habe.
Deswegen melden sich Klein und sein Freund schnell freiwillig, als der deutsche Kommandeur fragt, wer den Weg zu einem nahe gelegenen Bauernhof kennt, wo acht Juden benötigt werden. "Wir waren erst letzte Woche da", sagen sie. Sie werden losgeschickt, und während sie auf einem Hügel stehen und die Kolonne der abmarschbereiten Kameraden sehen - mit der bewaffneten Hitlerjugend davor und dahinter -, entscheiden sie sich abzuhauen. Sie finden eine leere Scheune und warten dort die Dunkelheit ab.
Nach dem Krieg gaben einige der österreichischen Hitlerjungen zu Protokoll, was mit den anderen Juden in Deutsch Schützen geschehen war. "In der Anzeige des Bezirksgendarmeriekommandos Oberwart vom 31. August 1945 an die Staatsanwaltschaft Wien hieß es: ,Dortselbst sicherten 4 Feldgendarmen und 1 SS-Mann den Platz durch Aufstellen rundherum des Grabens. Die Juden wurden vorerst angewiesen ihr Werkzeug abzulegen. Dann mußten sie vortreten und ihre Uhren abgeben. […] Dann mußten sich die Juden nebeneinander im Graben aufstellen. Sodann schoß der SS Unterscharführer S. mit einer Pistole, und der SS Hauptscharführer und 1 Feldgendarm mit einer Maschinenpistole die Juden nieder. Noch bevor die Juden in den Graben gingen, flehten sie die SS-Männer mit gefalteten Händen an, sie mögen sie doch nicht erschießen. Doch dies war vergebens und die SS-Männer versetzten mehreren Juden mit den Füßen Tritte, so daß diese in den Graben fielen.' "
Ich sitze im Zug von Berlin nach Duisburg. Draußen herrscht ein freundlicher Frühlingstag, und der Zug zieht an frischen, grünen Weiden vorbei. Ich lese in den "Jahren der Vernichtung" von Saul Friedländer. Hitler redet mit Jozef Tiso [Staatspräsident des deutschen Vasallenstaates Slowakei] über das "jüdische Problem in Ungarn". "Das Ausmaß der Verjudung sei überraschend; über eine Million Juden lebe in Ungarn. Es sei ein großes Glück für die deutsche Nation, dass der Führer dieser Nation ein Österreicher sei. Aber trotz seiner Kenntnisse der Verhältnisse habe der Führer ein solches Ausmaß der Verjudung nicht für möglich gehalten."
Aus dem Umschlag des Buches ziehe ich ein zusammengefaltetes Blatt hervor. Es zeigt eine Karte mit einer blau gestrichelten Linie. Oben auf der Seite steht eine Adresse: Am Wiesengrund 18a*, Duisburg. [*Adresse von der Redaktion geändert]
Der Zug hält am Hauptbahnhof. Im Untergeschoss miete ich ein Fahrrad. Ich fahre an den großen Rheinbrücken entlang, unten ziehen Lastkähne vorbei. Schilder verkünden, dass wir uns im "Herzen des Ruhrgebiets" befinden. Außerhalb der Stadt nehme ich einen schmalen Fahrradweg, der sich am Ufer entlangschlängelt. Nach zehn Minuten biege ich rechts ab und komme in die Wohngegend von S.
Es ist eine Siedlung für Angestellte der Deutschen Bahn, nahebei verlaufen Eisenbahnschienen. Die Häuschen sehen aus wie aus dem Katalog. Es gibt lächelnde Gartenzwerge, gelbe Blumen in Tontöpfen, überall Rasen und Schatten spendende Bäume. Und noch etwas gibt es: hohe Zäune, Schilder, die vor Hunden warnen, dunkle Fenster mit Spitzengardinen - eine Atmosphäre, als würde man von allen Seiten beobachtet.
Die Sonne ist heißer geworden, und ich fahre mit dem Fahrrad bis zu seinem Haus. Der Vorgarten ist leer. Kein Auto in der Einfahrt. Keine Bewegung hinter dem Fenster. Ich drehe ein paar Runden, wie ein Tourist, der das schöne Wetter genießt, kann aber das Gefühl nicht abschütteln, dass die ganze Straße mich beobachtet. Ich fahre zu dem kleinen Wäldchen am Rande der Siedlung, um unbeobachtet durchzuatmen. Ich probiere, ob ich durch den Wald von hinten an die Häuser komme. Unmöglich. Ein vier Meter hoher Zaun versperrt den Weg. Ich kehre auf die Straße zurück. Auf dem Briefkasten des Hauses 18a finde ich einen Namen - Adolf S.
Klein und sein Freund zerbrechen sich in ihrer Scheune den Kopf. Sie wissen, sollten sie erwischt werden, wird man sie sofort erschießen. Der Freund hat eine Idee. Ihm ist der katholische Priester von Deutsch Schützen eingefallen, der sie täglich auf dem Weg zur Arbeit begleitete. Bei ihm erfuhren sie Menschlichkeit, außerdem sprach er Ungarisch. Sie warten bis zum frühen Abend, umrunden dann das Dorf und gelangen zum Haus des Priesters.
Der Priester steht dort mit einem SS-Mann. Klein und sein Freund warten. Der Priester ist schockiert, sie zu sehen. "Was macht ihr hier?", fragt er. Sie denken sich eine Geschichte aus. "Wenn sie uns zusammen finden, werden sie uns alle umbringen", windet sich der Priester. Der Freund mischt sich ein. "Vater, wir wissen, dass es riskant ist. Aber Sie wissen auch, was das nächtliche Geräusch der Artillerie bedeutet. Die Russen kommen. Ich spreche Russisch, wir sind beide Juden. Es wäre nicht schlecht für Sie, wenn wir bei Ihnen wären, wenn die Russen kommen."
Der Priester ist schnell überzeugt. Er schickt sie zum Haus seiner Haushälterin. Sie bringt sie auf den Speicher und versorgt sie mit Essen und Trinken. In den nächsten Tagen hören sie Gewehrschüsse. Manchmal rücken sie die Dachziegel etwas zur Seite, um besser hören zu können. Am vierten Tag kommt der Priester. "Meine Söhne", sagt er, "die Russen sind da. Ich habe für euch getan, was ich konnte; nun seid ihr an der Reihe." Klein und ein Freund holen das gelbe Band heraus, das sie als Juden kennzeichnet. Sie bleiben mit dem Priester und einigen Nachbarn im Haus. Die russischen Soldaten poltern herein; der Freund von Klein erklärt, wie sie ihr Leben gerettet haben. Die Russen verschonen die Einheimischen und schicken die beiden Überlebenden ostwärts, nach Hause.
Aber für Klein gibt es kein Zuhause mehr. In Ungarn erfährt er, dass der Großteil seiner Familie ermordet wurde. Er erfährt von Auschwitz. Er geht nach Italien, schließt sich der Hagana [zionistische Untergrundorganisation in Britisch-Palästina] an, nennt sich künftig Moshe Zairi und kämpft im Ersten Israelisch-Arabischen Krieg von 1948.
Aber die Geschichte von Deutsch Schützen und seinem Retter "brennt in seiner Seele". Zairi weiß nicht, ob er sich auf sein neues Leben konzentrieren, ob er die Vergangenheit hinter sich lassen oder sich mit ihr auseinandersetzen soll. Manchmal ist er sich nicht einmal sicher, was überhaupt geschehen ist. Vielleicht hat er es ja nur geträumt. Er versucht vergeblich herauszufinden, ob das Dorf existiert. Damals gab es noch keine österreichische Botschaft in Israel.
Ich beschließe, zu überprüfen, ob ich beobachtet werde. Neben dem Haus von S. befindet sich ein leerer Hof, der von einem hohen Metallzaun umgeben ist, aber die Tür ist offen. Niemand da. Von diesem Hof aus müsste ich in den Hinterhof von S. gucken können, vielleicht sogar ein Foto von ihm machen. Fünf Sekunden nachdem ich den Hof betreten habe, höre ich eine laute Stimme hinter mir. Ein Junge von dem Haus unten an der Straße kommt heraus, er wedelt mit den Händen. Er erklärt, dass es sich um Privatgelände handelt. Seine Mutter steht in der Tür und überwacht den Platzverweis.
Einmal entdeckt, beschließe ich, mit den Nachbarn zu reden. Andreas H., wohl Mitte zwanzig, lebt im Haus gegenüber von S. Ich frage ihn, ob er davon gehört hat, was sein Nachbar während des Kriegs getan hat. "Ich habe davon gehört", sagt er. "Aber ich kenne den Mann nicht. Ich habe noch nie mit ihm ein Wort gewechselt." Der Abstand zwischen den beiden Häusern beträgt nicht mehr als 20 Meter, fällt mir auf. In dieser Nachbarschaft würde sich ein Mann wie Fritzl wohl fühlen. H. fährt fort: "Er war doch jung damals, oder nicht? Und der Staat hat ihm gesagt, ,Mach das, oder du wirst hingerichtet.' Es ist schwer zu beurteilen, wir können uns das kaum vorstellen, weil wir nie in so einer Situation gewesen sind."
"Wissen Sie, dass man ihm vorwirft, unschuldige Juden erschossen zu haben?", frage ich nach. "Ja", sagt er, "aber glauben Sie, dass er das aus Spaß gemacht hat? Es war für den Staat!"
Ich klopfe an einige andere Türen. Keine Reaktion. Zwei Frauen, die aus einem Haus kommen, das an das von S. angrenzt, verweigern das Gespräch. Neugierige Nachbarn spähen durch die Zäune. Im Haus von S. bewegt sich nichts.
Am Ende der Straße begegne ich einer anderen Nachbarin, sie ist über 70. "S. soll in der Waffen-SS gewesen sein?", fragt sie erstaunt. "Ich wusste, dass er in der Armee gewesen ist. Aber in der SS? Sind Sie sicher?"
Ich zähle ihr die Hauptanklagepunkt gegen ihn auf. Sie schlägt ihre Hände aufrichtig schockiert vor dem Gesicht zusammen und verfällt in einen Monolog: "Wir haben auch gelitten, wissen Sie. Wir waren in Oberschlesien, unter russischer Besatzung. Sie haben meinen Vater schrecklich behandelt; meinen Bruder haben sie beinahe nach Russland verschleppt … S. wirkte immer freundlich. Er hat mir und meinem Mann bei Umbauarbeiten im Haus geholfen. Ich kann nicht glauben, dass er das getan hat. Der Holocaust war so furchtbar. … Wissen Sie, mein Onkel war auch in einem Konzentrationslager, in der DDR, in Leipzig. Er war stark wie ein Baum, aber als er zurück kam, war er kleiner als ich. … Ich will Ihnen was sagen: Ich höre viel Radio, ich lese, Sie kommen aus Israel, sagen Sie? Ich verstehe nicht, wie diejenigen, die den Holocaust überlebt haben, den Gazastreifen besetzen können. Warum reden die Holocaust-Überlebenden nicht mit der Regierung und helfen den Menschen in Gaza? Wie kann eine Nation, die so viel durchgemacht hat …?
Ich drehe mich um und lasse ihre Frage in der Luft hängen.
1987 gelingt es Zairi, das Dorf mithilfe der österreichischen Botschaft ausfindig zu machen. Er fährt dorthin. Der Priester ist verstorben, aber ein früherer Schüler von ihm ist nun dort tätig. Zairi weiß, dass es ein Massengrab geben muss, aber kann es nicht ausfindig machen. Er fragt bei der Jüdischen Gemeinde in Wien an und ermutigt sie, dort zu graben. 1995 werden die Überbleibsel von 57 Opfern im Wald gefunden, eine jüdische Zeremonie wird abgehalten. Zairi hilft dabei, ein Mahnmal für seine Kameraden zu errichten. Aus Israel bringt er einen Stein mit und legt ihn vor dem Mahnmal ab. Er erzählt seine Geschichte den Mitarbeitern von Vad Jaschem, wo sie dokumentiert ist.
2008 fand Andreas Förster, ein junger österreichischer Geschichtsstudent, zufällig die //www:Protokolle des Prozesses, der nach dem Krieg gegen die an dem Massaker beteiligten HJ-Angehörigen geführt wurde. Der Name von Adolf S. taucht auf. Die Zeugen ergänzen, dass er auch einen jüdischen Arbeiter umgebracht haben soll, der zu schwach zum Laufen war, als einen Tag nach dem Massaker die verbliebenen Juden nach Westen, nach Mauthausen aufbrachen. Förster und sein Professor, der Historiker Walter Manoschek, schlagen den Namen Adolf S. im deutschen Telefonbuch nach. Es gibt nur einen Treffer: Duisburg. Manoschek fährt nach Duisburg, um den Mann zu treffen. Er gibt vor, über die Aktivitäten der SS in Österreich zu recherchieren. S. berichtet ihm, er sei in Deutsch Schützen gewesen, könne sich aber nicht an die Ereignisse vom 29. März, dem Tag des Massakers, erinnern. Er erzählt ihm, er habe an der Ostfront gekämpft, hätte sich zurückziehen müssen, sich verirrt und sich dann an der ungarisch-österreichischen Grenze wiedergefunden. Manoschek zeichnet das Gespräch auf; er geht davon aus, dass sich S. seit Langem auf die Fragen zu seiner Vergangenheit vorbereitet hat. Der österreichische Historiker überreicht die Dokumente und das Interview der Dortmunder Staatsanwaltschaft. Im Dezember 2009 erhebt sie Anklage gegen Adolf S. wegen Mordes an 58 Juden. Einer der HJ-Angehörigen aus dem ersten Prozess von 1949, der heute in Kanada lebt, hat eingewilligt, gegen ihn auszusagen. S. ist inzwischen 90 Jahre alt. Er gibt nichts von allem zu. Mit Manoschak zu reden, ist er nicht mehr bereit. Zairi will im Prozess als Zeuge aussagen.
Ich versuche es bei S., läuten lange an der Tür. Keine Antwort. Ich fotografiere die Haustür und rufe ihn an. Nach viermal Klingeln nimmt er ab. "S. hier", sagt er. "Hallo", sage ich, "ich bin ein israelischer Journalist. Ich habe einige Fragen zu Ihrer Biografie." - "Wer sind Sie?", fragt er. Ich erkläre es ihm erneut, er legt auf. Ich stehe vor seinem Haus und wähle wieder seine Nummer.
Er nimmt ab. "Ich stehe vor Ihrer Tür, kann ich hereinkommen und mit Ihnen reden?", frage ich. Er legt auf. Ich rufe noch mehrmals an, er antwortet und bricht dann das Gespräch ab.
Plötzlich kommt rechts von mir Bewegung auf. Drei Leute marschieren auf mich zu: der Junge, der mich vorhin aus dem Garten vertrieben hat, sein Vater und seine Mutter.
"Darf ich Sie fragen, was Sie hier tun?", schreit der Vater im Gehen. "Ich bin ein israelischer Journalist", antworte ich. "Ich schreibe über Adolf S."
Er schreit mich an. Ich hätte einfach seinen Garten betreten, dazu hätte ich kein Recht … Ich höre nicht zu. Das kann ich nicht. Ich starre wie gebannt auf seine Lippen, Schaum sammelt sich in seinen Mundwinkeln. Er schreit. Auf Deutsch. Als stünden wir an der Rampe von Auschwitz, denke ich.
Ärger kommt plötzlich in mir auf. Ich nähere mich ihm aggressiv, pflanze mich vor ihm auf. Und schreie "He!"
Er ist jetzt still, senkt die Schultern.
"Entspannen Sie sich!", sage ich. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass sich sein Sohn ängstlich hinter ihm versteckt. Ich fühle mich beschämt.
"Gehen Sie nach Hause", sage ich und weise ihm den Weg mit dem Arm. Er dreht sich schulterzuckend um. Seine Familie läuft vor ihm her. Sie schließen die Tür hinter sich.
Kurz darauf besteige ich mein Fahrrad, radele zum Bahnhof und steige in den Zug nach Berlin. Auf meinem Platz versenke ich mich in mein Buch - "Die Jahre der Vernichtung".
In den nächsten Wochen wird ein Ärzteteam darüber entscheiden, ob Adolf S. - inzwischen Nummer vier auf der Liste der "meistgesuchten Naziverbrecher" des Simon Wiesenthal Centers -, der 1945 mutmaßlich 58 Juden getötet und seither als freier Mann gelebt hat, einem Prozess gesundheitlich gewachsen ist. Moshe Zairi, ehemals Moritz Klein, wird nicht mehr aussagen können, falls die Verhandlung noch stattfinden sollte. Er starb im März 2010 im Alter von 88 Jahren.
Assaf Uni, Jahrgang 1977, berichtete vier Jahre lang als Europakorrespondent für die israelische Zeitung Ha'aretz und arbeitet nun als freier Journalist. Er lebt in Berlin /// Aus dem Englischen von Sabine Seifert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was