: Der Putsch als Film
Noch während des Putsches in Moskau wurde Sergej Sneshkins Science-fiction über einen Putsch in der Sowjetunion uraufgeführt ■ Von Oksana Bulgakowa
Am Nachmittag des 20. August kam der erste Anruf aus Leningrad. Eine Freundin meinte, daß es mit dem Putsch nicht so schlimm sei, am Abend ginge sie zu einer Filmpremiere. Ich staunte, da noch kein einziger Sender das Ende des Putsches gemeldet hatte. Doch im Leningrader Haus des Films sollte der Putsch bereits im Kino laufen: Der nicht zurückkam wurde nach einem Science-fiction über einen Militärputsch im Moskau des Jahres 1992 mit den üblichen Schwierigkeiten (keine Panzer für die Aufnahmen, keine Drehgenehmigung) zwei Jahre lang gedreht und nun am Abend des Ausklangs eines realen Putsches dem aufgebrachten Publikum vorgestellt. In derselben Nacht befahl der Bürgermeister von Leningrad, den Film sofort im Fernsehen auszustrahlen. Was auch geschah — nach Mitternacht. Ein schlechter Mitschnitt kam nun nach Berlin.
Der nicht zurückkam veranschaulicht einen Alptraum: Was geschieht, wenn die sowjetische Demokratie niedergewalzt wird? Die Erzählung von Alexander Kabakow, nach der dieser Film entstand, ist allerdings nicht wiederzuerkennen. Dort begibt sich ein Moskauer auf eine Reise in die Zukunft und erlebt die von der Perestroika losgelassene Gewalt. Er gerät in ein makabres Abenteuer; in der Zeit der rosigen Glasnost-Nebel las sich das wie eine deutliche Dissonanz. Im Film, der Jahre später — nach dem Pogrom in Kischinjow, den Massakern in Fergana, den Opfer im Baltikum, in Ossetien, Georgien — entstand, wirken die schlecht fotografierten Bilder von der Militärgewalt geradezu infantil. Beunruhigend auch die Sehnsucht nach einem Putsch, die — nach dem Scheitern seines Versuchs — die jüngste Geschichte in ein völlig anderes Licht taucht.
Sergej Sneshkins Film beobachtet den Alltag eines Fernsehreporters und durch dessen Kamera das Chaos des „normalen“ sowjetischen Lebens: Gewalt pur. Morde, ausgesetzte Kinder und überfüllte Heime, Selbstverbrennung auf dem Roten Platz, Hungerstreiks von Homosexuellen, nationale Kriege, Flüchtlinge, eine Demonstration von Stalinisten in Rollstühlen, ausreisende Juden, Schießübungen der Generäle (als Zielscheiben dienen die Fotos von Gorbatschow und Jelzin), Folterungen beim KGB (die Untersuchungsrichter und Folterexperten sehen intelligent, ja menschlich aus).
Man bekommt Mitleid mit allen. Mit den Stalinisten und russischen Nationalisten, auch mit den verzweifelten Militärs: Von Stalin ausgerottet, vom NKWD während des Kriegs schikaniert, hat Chruschtschow sie massenweise entlassen, Breschnew hat sie zum Hohn der Nation gemacht, alles, was sie eroberten (vor allem die DDR), ist längst gegen Strumpfhosen eingetauscht. Allen geht es schlecht, und alle wollen nur das Beste. Ein russischer Flüchtling aus Mittelasien meint, wenn ein Putsch käme, sei er sofort dabei, er hofft nur, daß man ihm ein MG anvertraut. Leidenschaften, Verbitterung, Müdigkeit. Kein Fleisch seit 20 Jahren bei den Bauern und leere Kühlschränke bei der Intelligenz.
Der Fernsehreporter sammelt diese Ängste, die Unzufriedenheit der russischen Bauern und der jüdischen Intelligenz, bei Militärs wie Dissidenten. Er beobachtet die zerfallen(d)e Realität und projiziert Gewaltphantasien darauf (brennende Autos, Straßenexekutionen, Stadien, in denen gefoltert wird). Ausgelöst hat seine Visionen der geheime Plan eines Militärumsturzes, den ihm ein KGB-Offizier zugespielt hat. Der Offizier ist bald eine Leiche, der Fernsehreporter weiß nicht, was er mit seinem Wissen machen soll. Das weiß auch der Zuschauer nicht, da der Putsch gegen die anormale Realität wie eine Normalität wirkt.
Der Film endet, wenn der Putsch beginnt. Premiere hatte er am Ende eines kläglichen Putschversuchs. Doch er dokumentiert eine Stimmung, derzufolge die (Militär-)Diktatur der einzige Ausweg ist. Wie der Held nicht weiß, wohin mit dem geheimen Plan, weiß auch der Regisseur nicht, was er dem geheimen Wunsch der Bauern und Militärs, der Intelligenz und der Dissidenten nach einer eisernen Hand, nach Ordnung oder wahrem Märtyrertum entgegenhalten kann.
In seiner Fernsehansage vor der Sendung sprach Sneshkin von der Tristesse des sowjetischen Lebens und der absurden Komik des Putschversuchs, über die man nur lachen könne. Der Film hat diese Komödie ernsthaft inszeniert und kam so der Realität in die Quere. Wie mögen die Menschen den Film nach dem „Sieg“ gesehen haben? Die KP wurde nicht von den Militärs ausgelöscht, wie es die Militärs im Film wollten — sie hat sich selbst verboten. Wenigstens ein im Film hinterlegter Wunsch ging in Erfüllung.
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