■ Der ÖTV-Vorsitzende Herbert Mai verteidigt die Gewerkschaften vor der öffentlichen Kritik: Jammern allein hilft nicht
Die letzten Debattenbeiträge in der taz zur Lage der Gewerkschaften treffen: Schonungslos beschreiben sie, wie Gewerkschaften nicht nur von Intellektuellen, sondern auch von weiten Teilen der (nichtorganisierten) Gesellschaft wahrgenommen werden. Das ist dann aber auch ihr Problem: Die Außensicht wird den inneren Potentialen der Gewerkschaften nicht gerecht. Und wer sich intensiv mit den innergewerkschaftlichen Debatten und Ressourcen beschäftigt, muß in der Analyse zu anderen Ergebnissen kommen.
Die Diskussionen in den Gewerkschaften verdeutlichen, wie tiefgreifend manche Verunsicherungen und Befürchtungen sind. Neben internen Debatten werden Gewerkschaften tagtäglich von außen durch gesellschaftliche Veränderungen, durch Maßnahmen und Handlungen der Arbeitgeber auf die Probe gestellt. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und speziell die Situation in den fünf neuen Ländern lähmen gewerkschaftliche Handlungsmacht und bedeuten für viele sozialen Abstieg. Die Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung stellt dabei das wichtigste Problem dar.
Dazu kommen eine vertiefte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und, daraus resultierend, eine Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit, was sich negativ auf Mitgliederzahlen und Finanzkraft auswirkt. Die Arbeitgeber versuchen mit Vehemenz, die Arbeitnehmereinkommen auf vielfältige Art und Weise abzusenken.
Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungen fehlt vielen Kolleginnen und Kollegen eine klare und entschiedene Antwort ihrer Organisation. Diese Perspektivlosigkeit führt in eine Legitimations- und Akzeptanzkrise ihrer Gewerkschaften. In dieser Situation kann niemand Patentrezepte liefern. Aber in der Lähmung zu verharren und auf den Untergang der Gewerkschaften zu warten, kann es auch nicht sein: Dafür sind sie zu wichtig. Heute noch mehr als jemals zuvor.
Vordringlich als erste Antwort auf die Krise ist die Rückbesinnung auf das, was ich als die beste Substanz, als „Schatz“ der Gewerkschaften bezeichnen möchte. Gewerkschaften werden positiv getragen vom Engagement und dem zeitlichen Einsatz der Menschen, die in ihnen arbeiten, sei es haupt- oder ehrenamtlich. Unsere Mitglieder zeigen ein hohes Maß an Motivation, Kreativität und Identifikation mit ihrer Gewerkschaft, ihren Zielen und den darin verankerten Werten.
Dieser persönliche Einsatz hat dazu verführt, ihn als selbstverständlich hinzunehmen. Eine Vernachlässigung der ständigen Auseinandersetzung als Organisation mit brisanten und relevanten gewerkschaftlichen oder gesellschaftlichen Themen war die Folge.
Gewerkschaften haben sich auf die (auch in Zukunft sehr wichtigen) Bereiche der Tarifpolitik und der Schutzfunktion konzentriert – mit der Folge, daß die Organisation selbst nur zu bestimmten Zeiten (zum Beispiel während Tarifrunden) in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerät und damit ihren Wirkungskreis und ihre Möglichkeiten zur politischen Einflußnahme reduziert.
Als Gesamtorganisationen müssen wir wieder mehr das politische Handeln in den Vordergrund rücken und damit auch die Tarifpolitik und die Schutzfunktion stärken. Wir müssen in Zukunft wieder der akzeptierte soziale Ort für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterschiedlicher Herkunft, Qualifikationen und Bereiche werden. Wir müssen politische und soziale Heimat bieten, in denen gesellschaftliche Auseinandersetzungen möglich sind.
Unsere Zukunftsaufgaben werden es sein, den Dialog zu führen und politischen Einfluß zu nehmen auf:
1. Die Bestimmung des Verhältnisses von Leben und Arbeit.
Gewerkschaften müssen Arbeit und Leben mitgestalten, um in beiden Bereichen eine Qualität zu erreichen, die die Menschen zufriedener macht und die Entwicklung zu einer humanen Gesellschaft ermöglicht. Die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit ist dabei für uns das vordringliche Ziel.
2. Weiterentwicklung des Sozialstaats.
Die Aufkündigung der bewährten Kostenverteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Systemen der sozialen Sicherung am Beispiel der Pflegeversicherung zeigt die Absicht, weitere soziale Kosten auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzuladen. Wir müssen verhindern, daß das Solidaritätsprinzip in der sozialen Sicherung gesprengt wird.
3. Die Perspektive der Arbeitszeit- und Einkommenspolitik.
Die Souveränität über die eigene Arbeitszeit ist so auszubauen, daß nicht die Arbeit den Lebensrhythmus bestimmt, sondern die Arbeitszeit sich den Lebensbedürfnissen der Menschen anpaßt. Die Einkommenspolitik ist so zu betreiben, daß die Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums und das Solidarprinzip wieder in Einklang stehen, aber auch die Tendenzen zu Lohn- und Gehaltsabsenkungen eindeutig bekämpft werden.
4. Speziell für die ÖTV: eine gesellschaftliche Debatte über die Zukunft des Staates und der öffentlichen Dienstleistungen.
Die von uns initiierte und erfolgreich umgesetzte Debatte zur „Zukunft durch öffentliche Dienste“ muß in eine zweite Phase treten: Es sollte ein Netzwerk geschaffen werden, das die Modernisierung in gewerkschaftlichem Sinne auf breiter Basis begleiten kann.
5. Die Arbeits- und Lebensbedingungen in Ost und West sind möglichst schnell auszugleichen.
Unsere Gesellschaft verträgt die Ungleichheit, die Benachteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Osten nicht länger.
Gewerkschaften sind also so zu entwickeln, daß sie in der Lage sind, aktiv diese Prozesse vor dem Hintergrund der zunehmend komplexen gesellschaftlichen Probleme zu gestalten. In diesem Zusammenhang werden unsere Aufgaben auch sein, uns mit unseren eigenen, manchmal veralteten Strukturen ebenso auseinanderzusetzen wie mit den damit verbundenen Abhängigkeiten und Hierarchien. Wir werden Lösungen finden, wie wir die Entwicklungsprozesse in Richtung auf mehr Verantwortungsübernahme der Ebenen ausbauen, dezentrale Gestaltungsräume erweitern und wie wir unsere Instrumente entsprechend verändern. Wir werden den Gruppen, Bereichen und Geschlechtern einen Platz in der Organisation sichern, ohne daß sie darum kämpfen müssen.
Wir werden den Mitgliederwillen noch stärker in unsere Entscheidungen aufnehmen und umsetzen. In einem aktiven Dialog, mit- und untereinander, werden wir einen Organisationsentwicklungsprozeß zur Umsetzung unserer Beschlüsse zur Organisationsreform gestalten, der alle Betroffenen zu Beteiligten macht. Es gilt, eine Brücke zwischen den Grundlagen der Gewerkschaften und den zukünftigen Inhalten und Formen unserer Arbeit zu schlagen. Der Begriff und Umfang gewerkschaftlicher Interessenvertretung ist über den Bestandsschutz, Sicherung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Einkommen hinaus zu einer umfassenden Vertretungsperspektive für mehr Lebensqualität zu entwickeln. Wohnqualität, Kosten für Wohnungen, Umweltschutz, Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, umfassende kostengünstige Bildung vom Kindergarten bis zur Universität sind Teil der von uns einzufordernden Lebensqualität für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir haben die inneren Reserven für einen Neuanfang. Krise als Chance zu begreifen ist für uns keine leere Worthülse, sondern Anspruch und Voraussetzung für Visionen. Meine Vision von Gewerkschaften in zehn Jahren steht: Es wird eine Vielzahl von Projektgruppen und Innovationszirkeln geben, die die Arbeitsformen und Arbeitsgestaltung sowie die Arbeitsorganisation in den Betrieben und Verwaltungen entscheidend mitgestalten.
In Workshops wird über Inhalt und Form von Dienstleistungen mit BürgerInnen und Bürgern diskutiert. Die Notwendigkeit öffentlicher Dienstleistungen ist politisch durchgesetzt und unumstritten. In den Gremien der ÖTV sind Männer und Frauen entsprechend ihrem Anteil vertreten. In Arbeitstagungen, Seminaren und in den ÖTV-Bildungsstätten wird über Inhalte und Formen unserer Politik offen und lebendig gestritten. Die gewerkschaftlichen Veranstaltungen sind wieder so attraktiv, daß viele Menschen sich entschließen, Mitglied zu werden und sich zu engagieren.
Das ist keine ferne Utopie, das ist eine realisierbare Vision. Wir haben angefangen, sie umzusetzen. Herbert Mai
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