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■ Der November ist der Monat der AltenhilfeMänner im Martinsrausch

Als ich ein Kind war, verhinderte ich beinahe die Invasion von der Wega. Ich zwängte mich in ein glimpfiges grünes Nicki und jagte als Körnel Ed Sträker auf meinem Bonanzarad Ufo-Eindringlinge, die nur am kalten, weil blutleeren kleinen Finger zu erkennen waren. Auf einer meiner täglichen Patrouillenfahrten riß plötzlich eine Windboe einen alten Mann zu Boden. Ich sprang vom Rad und half dem Greis auf, ahnte aber sofort: Das ist einer von ihnen. Ich griff nach der faltigen Hand und drückte den kleinen Finger so fest, daß der Alte aufschrie. „Was machst du denn mit dem Opa?“ herrschte mich eine herbeieilende Turmfrisur an und stieß mich, bevor ich etwas erklären konnte, zur Seite. Nun gut, der Finger war nicht gerade eiskalt gewesen, aber nie wieder würde ich der Menschheit helfen, nie wieder ...

Zwischen den Kindern mit ihren zusammengeklopften Lampions schlängele ich mich am Sankt- Martins-Zug vorbei. Als ich das Haus betrete, empfängt mich vollkommene Dunkelheit. Irgendwer atmet vor mir. Wo ist der rote Punkt? Noch bevor sich meine Augen ans Dunkel gewöhnen, springt das Licht an. Vor dem Schalter an die Wand gelehnt steht ein in komplizierte Abendstraßeneleganz gekleideter älterer Herr, der sich heftig seine Lampe begossen hat.

Dem entsprechend ist er beeinander: „Wie kann man nur so betrunken sein?“ Nein, keine Entschuldigungen. In Zeiten, in denen Alte nicht mehr alt sein dürfen, sondern als Senioren tennisfit sein sollen, muß jeder beim Tanztee erarbeitete Nachmittagsrausch konsequent unterstützt werden. Also greife ich seine Schulter und bugsiere ihn die Treppe hinauf in den Fahrstuhl.

„Welche Etage?“ frage ich dreimal, bis ich ihm ein „Fünf“ entlocke. „Ich schau gleich noch mal nach Ihnen“, drücke ich den Knopf, stürze die Treppen hinauf in meine Wohnung, werfe die Taschen in eine Ecke und höre es oben auch schon scheppern. In zwei Sekunden nehme ich vier Stockwerke, und da steht er mit dem Kopf an die Tür gelehnt. Aus dem Fahrstuhl vornüber gegen die Glasscheibe. Keine Scherben, kein Blut.

„Das gibt aber eine schöne Beule“, packe ich den Alten wieder und schiebe ihn vor seine Tür.

„Wie kann man nur so betrunken sein.“ Von draußen wehen zarte Stimmchen herein: „... und meine Laaaateeerne mit mir.“ Ja, bin ich denn der Mann aus Tours? Soll ich jetzt auch noch meinen Mantel teilen? Gemütlich furzt der Alte in meinem Arm, während ich in der Manteltasche einen Schlüsselbund finde. Von sechsen paßt natürlich keiner. Langsam schläft mein Arm ein.

„Das ist bestimmt Wilmersdorf“, freut sich der Gute, um sich dann noch einmal durchsuchen zu lassen. In der Hosentasche ein Mäppchen. „Auto, Auto...“, gluckst es immer lebendiger aus dem Restbierbruder. Im Jackett finde ich das dritte Bund. Endlich – der Schlüssel paßt. Erleichtert stoße ich mit dem Fuß die Tür auf: „Kann ich Sie jetzt allein lassen?“

„Sicher ...“, brummelt er und kippt vornüber in die Wohnung, mit dem Kopf gegen den Schuhschrank. Ich packe das nicht klein zu kriegende Bündel unter den Armen, hieve es vom Boden ins Wohnzimmer zur Couch. Ihn ausziehen? Mit dem Mantel friert er heute nacht nicht. Und wenn er von der Couch fallen sollte? Ich prüfe den Teppich – das reicht.

„Kann ich Sie jetzt allein lassen?“

„Sicher ... und schließen Sie ab.“ Ein kluger Rückpaß. Morgen werde ich noch mal anklingeln. Bis dahin werde ich ein wenig Singen üben: „Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin war ein guter Mann ...“ Michael Ringel

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