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■ Der Norden ist niemals weit: Martin Heidegger und die SchwarzwaldklinikHinter dem Glottertal

Im Süden liegt es, wo die Äpfel wachsen. Wo die Menschen Zwiebeln statt Bärte tragen. Wo die Pfeifen rauchen, die in ihren Ohren stecken. Von wo es weit, dramatisch weit nach Ellwangen ist. Auch Kitzingen ist nicht erreichbar.

Schwer tut sich der Glottertaler, nach Gaildorf zu gelangen. Er nimmt den Weg Richtung Rottweil und Rottenburg oder eher doch über Bad Buchau und im Bogen über Bad Schussenried und Schröders Heimatgemeinde Augsburg und quer westlich retour verzögernd auf Mössingen zu. Er kommt nicht vorwärts.

Er lotet Gengenbach an, orientiert an Offenburg, Bad Rippoldsau-Schapbach wäre eine Lösung. Womöglich ginge es erst mal via Titisee-Neustadt und Altenburg- Umpfzingbörgensen. Er hat keinen Mazda.

Überm Glottertal im blechblauen Schwarzwald braut sich eine tiefdunkle Wetterfront zusammen. Sie trägt den Namen Angela. Was ein bezaubernd-betörender und bohrend erotomanisch machender Name. Hagel wie aus Eimern gekippt. Schneebrüche wie aus Steilwänden geschnitten. Fauchende Ureinwohnerhaare bis zum Himmelsdach. Schlundig klafft der Tannengrund. Kehricht kippt das katastrophale Tief auf Straßen hinaus. Dieses Unwetter bringt einen Hagel-Rekord.

Glottertal klamm. Herrn Klomm umgreift herzstörende Beklemmung. Die Situation ist abscheulich. Der Tourismus bricht zu Schrott. Seit die „Schwarzwaldklinik“ Geschichte sei, gehe nichts mehr. Der Kurbetrieb, gewiß, laufe normal, aber der Absatz! Seine schönen Schlüsselborde! Seine Kunstholzschlüsselborde mit Goldplasteschlüsselverzierungsapplikation! Mit integrierter Postkarte. Hier, sehen Sie: Das ist Klaus-Jürgen Wussow mit mir! Beim gemütlichen Schinkenspeisen. Das ist Gaby Dohm! Das ist Sascha Hehn! Niemand will das mehr sehn.

Sauender Schnürregen sackt ins Glottertal unbarmherzig frech herein und herunter. Schwere Wolkenbrüche auch im Raum München. Autobahn nach Garmisch zeitweise gesperrt. Winterurlauber in Frust und Zorn. Feuersbrünste auf dem Asphalt. Zwei BMW brennen völlig aus.

Bei Marburg gelangt weggeschwemmte Erde in eine kommunale Wasserversorgungsanlage. Die Verwüstungen sind vom Verheerendsten. Die Bevölkerung randaliert und sieht sich zu Maßnahmen gezwungen. Der Bürgermeister flieht. 15.000 ohne Trinkwasser, ohne Brot und Lohn. Die Manufaktur streikt. Die Kommandantur erklärt den Krieg. Aufregung umsonst? Nein. Von der Außenwelt abgeschlossen: die Schwarzwaldklinik im Glottertal. Erdrutsche blockieren die einzige Straße. Der Parkplatz verwaist. Keine Einnahmen, keine zehn Mark Parkgebühr. Er sei dem Ende nahe. Wo sind die Flaneure? Die Besucher im Defilee? Wo ist Wussow?

Todtnauberg, eine halbe Autostunde entfernt, steht im sengendsten Sonnenlicht. Thurnau und Staffelberg: kein Thema. Ein Mann um die Neunzig weist den Schritt. Den Hügel hinaus, da hinten, am Martin-Heidegger-Weg, und dann sind Sie da, da hockt des Denkers Hüttn.

Hier wohnte Martin Heidegger. Die Holzbank morsch. Der Sitz unbequem. Alle Fragen fraglos sinnlos. Der Norden ist nicht weit. Der Norden ist niemals weit. Es gibt immer einen Norden. Das Ziel heißt Tübingen am Borstengehügel.

Glücklich, wer einen Mazda und Autobahnen hat. Jürgen Roth

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