piwik no script img

Der Neue Personenkult im Osten

Jelzin, Pozsgay, Milosevic, der Umstieg auf den Nationalismus beginnt/ Liberalisierung ein westliches Wunschbild?  ■  Aus Wien Michael Siegert

Als Ungarns rundlicher Reformerstar Imre Pozsgay Anfang Mai von einem Besuch bei Margaret Thatcher zurückkehrte, wiederholte er einem heimischen Reporter „bescheiden“ und „gesenkten Blickes“ die Worte, welche die eiserne Lady an ihn gerichtet hatte: „Was mir in England gelungen ist, kann Imre Pozsgay in Ungarn gelingen, und wenn es Imre Pozsgay gelungen ist, kann es Gorbatschow in der Sowjetunion gelingen.“

Was ist Imre und Maggie gemeinsam? Privatisierung, Umverteilung des Geldes von den unteren Klassen auf die neuen Reichen, Entmachtung des alten Establishments, Liquidierung des klassischen Sozialismus, Wiederbelebung des Nationalismus. Im Gespräch mit Österreichs Sozialisten haben sich Ungarns Spitzenfunktionäre als „Thacheristen“ bekannt.

Wenn man aus der Krise herauswill, und das ist nur mit Opfern möglich, dann muß man dem Volk etwas anbieten. Eine neue Ideologie, ein positives Ziel, das animiert, nicht nur defensiv und negativ ist wie Stalins „haltet Disziplin in der bedrängten Festung“.

Eine zeitlang versuchte man es in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit einer neopositivistischen Philosophie. Man nannte sie schamhaft WTR („Wissenschaftlich-technische Revolution“): Maschinenbau, mathematisch gestützte Planung, Wachstum lauteten die fast sozialdemokratischen Parolen. Gorbatschow hat 1986 unter diesem Banner noch seinen ersten Parteitag abgehalten.

Der Astrophysiker Fang Lizhi, oft „Chinas Sacharow“ genannt, zieht Bilanz: „Die Führer glauben nicht mehr an den Marxismus-Leninismus, der vor 75 Jahren noch eine schöpferische Theorie war. Ich würde ihn nicht einmal 'leer‘ nennen, denn für Physiker tut sich in der 'Leere‘ sehr viel. Am besten paßt das Wort trivial. China braucht einen neuen Glauben.“

Jetzt dominieren die Schlagworte Markt, Privatisierung und Verrechtlichung, ja Liberalisierung des Systems.In diese Lücke stößt die Theorie des „neuen Autoritarismus“. Wu Jiaxang hat am 16.Jänner im Shanghaier 'Weltwirtschaftsboten‘ auf die „vier kleinen Tiger Asiens“ hingewiesen, die ihre Industrialisierung auf einem dritten Weg geschafft hätten - irgendwo zwischen sozialistischer Entwicklungsdiktatur (China) und kapitalistischem Liberalismus (Japan). Das Rezept von Hongkong, Südkorea, Taiwan und Singapur: „Zentralisierung auf höchster Ebene“, kombiniert mit „persönlicher Freiheit an der Basis“.

Die gegenwärtige Dezentralisierung in China gebe nur dem bürokratischen Mittelbau mehr Macht. China kenne daher heute weder Autorität noch Freiheit.

Wu will einen neuen Führer mit hoher Autorität. Er könnte den „starken Mann“ und Reformbremser Li Peng meinen, den Adoptivsohn Tschu En-lais. Der starke Mann soll die Bürokratie vom Markt trennen. Die Ansätze einer Privatwirtschaft im Ostblock sind alle nicht über einen begrenzten und mafios kontrollierten Sektor hinausgekommen (nur in Chinas Landwirtschaft gelang das). Das heißt, es gibt keinen wirklichen Markt, keine echte Konkurrenz, denn die Zahl der Lizenzträger wird klein gehalten. Sie rekrutiert sich aus den Verwandten der Bürokraten. Die Nomenklatura probt gewissermaßen den Umstieg in die Prokura.

In der Phase der Auflockerung kämpft im sowjetischen Politbüro Gorbis Liberaler Alexander Jakowiew gegen den Konservativen Jegor Ligatschow für die humanistisch -friedliche Weltordnung, gegen den „internationalen Klassenkampf“. Letzterer bedeutet aber nur die Besetzung von Afghanistan durch die Sowjetarmee (mit den Buchstaben SA auf den Schulterklappen).

Jakowiew/Ligatschow, Fang/Li - das ist der alte Kampf der Westler gegen die Ostler in den „asiatischen Despotien“ (nach Karl August Wittfogel). Wenn die Ideale der bürgerlichen Aufklärung in der Krise nicht mehr ziehen, braucht man einen kräftigeren Stoff in Reserve. Das ist der Nationalismus.

Am weitesten ging in diese Richtung Serbiens Parteichef (jetzt: Präsident) Slobodan Milosevic - wenn man von pathologischen Fällen wie Nicolae Ceausecsu und Kim Il-sung absieht. Sein Versuch, Serbien aus Titos Verfassungskorsett zu lösen und wieder zur dominanten Nation in Jugoslawien zu machen, führt zum tödlichen Nationalitätenkampf.

Was treibt ihn an? Der nationale Kampf überspielt einen sozialen, in einer Wirtschaft, die nicht mehr funktioniert, die mit tausenden Inflationsprozenten frei fällt. Was passiert, wenn Slobo König ist und sie zu ihm kommen, der die Massen gesegnet und ihnen alles versprochen hat? Wenn er nichts anbieten kann - wird er dann nicht dreinhauen müssen, nach innen oder außen?

Jelzin und Pozsgay, das hat sich in Wahlen und Umfragen gezeigt, sind im Gorbi-BELT die einzig populären Leute, welche die Partei bei Unruhen ins Feuer schicken kann (wie sie es mit Gomulka und Nagy 1956 getan hat). Boris Jelzin gehört zur hartgesottenen Rasse der OBKom-Sekretäre, jahrzehntelang gehärtet in Swerdlowsk. In Moskau kämpfte er gegen die Korruption, das hat ihn populär gemacht. Er tat es aber nicht durch Änderung des Systems, sondern indem er Bürokraten rauswarf, eine Stelle oft mehrmals im Jahr umbesetzte.

Das haben die sogenannten einfachen Leute schon an Stalin bewundert, so haben sie die Säuberungen der 30er Jahre verdaut. Die Nomenklatura war entsetzt, sie erzwang Jelzins Abberufung. Gewiß, Jelzin hat den Moskauern den Flohmarkt auf der Arbatskaja geschenkt. Aber er hat auch die Pamjat -Leute nach ihrer ersten Demonstration über die Gorkowa empfangen.

Dieser Antisemitenverein, dessen Führer mit den „Protokollen der Weisen von Zion“ in der Hand durch's Land zieht, bildet den radikalsten Flügel des russischen Nationalismus. Denen ist selbst das orthodoxe Christentum nicht mehr echt genug, sie suchen den russischen Urbauernglauben. Tun dürfen sie das alles nur mit Unterstützung des KGB, wie mir 'Ogonjok'-Chefredakteur Vitali Korotitisch versicherte.

Gegen Pamjat wirkt Alexander Solschenizyn noch gemäßigt, der hinter die bürgerliche Aufklärung zurück zur orthodoxen Ostkirche will. Er möchte die Welt mit dem Born des russischen Leids erlösen. Auch das ist Imperialismus.

Seit die Randvölker des Reiches aufbegehren, grummelt es bei den Russen. Die „Interfronten“ im Baltikum sind ein erster Schritt. Jelzin könnte Bannerträger eines neuen russischen Nationalismus werden.

Auch Imre Pozsgay, der in Ungarn als „starker Präsident“ aufgebaut wird, könnte die nationale Fahne aufnehmen, aus dem alten ungarischen Verliererkomplex heraus. Die Partei ist schon dabei, der Flagge die Stefanskrone wiederaufzunähen.

Die Partie gegen den Ungarnfeind Ceausescu ist längst eröffnet. Und Pozsgay selbst stand bei der Gründung einer nationalen Partei („Demokratisches Forum“) Pate.

Die Kehrseite der Medaille ist die Unterdrückung der Zigeuner, die in Ungarn die Manövriermasse der Arbeitslosen stellt. Die Zigeuner sehen auch in Rumänien, Jugoslawien und Bulgarien einem furchtbaren Schicksal ins Auge - zieht hier wieder einmal unbemerkt ein Holocaust herauf?

So fällt das osteuropäische Glacis in die autoritäre Zwischenkriegszeit zurück. Die vom Westen hineinprojizierte liberale Demokratie bleibt ein Wunschbild. Auf Adam Michniks Bücherbrett sah ich ein Pilsudski-Bild.

Das sowjetische wie das polnische Wahlgesetz zeigen ständestaatliche Ansätze, die an die österreichische Dollfuß -Verfassung von 1934 erinnern. Gewisse „Stände“ wie die Nomenklatura werden geschützt, gleichen sich mit anderen aus.

Die bisherige Opposition ist einverstanden, weil sie hofft, mit dem Zeitenwind im Rücken genügend viele von der anderen Seite herüberzuziehen. Die Alt-KP wieder sieht keinen anderen Weg (außer Schießen).

Der neue nationalistische Triumphalismus rettet vielleicht die alten Stalin-Klassen in neue Koalitionen hinüber, aber er treibt seiner Natur nach das Reich auseinander. Am Rand wird es abbröckeln.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen