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Der Montag des Jahres

Frankreich im Zeichen der „Rentree“  ■  Aus Paris Alexander Smoltczyk

Es muß bald soweit sein. Schwer zu sagen, wann - aber sie kommt. Schon wird es schwieriger, in der morgendlichen Metro die Zeitungsseiten umzuschlagen, ohne sich im Ohrgehänge der Nachbarin zu verfangen; schon ist auf den Gesichtern der Mitpassagiere der dankbar schwitzende Ausdruck des Touristen dem streng wissenden Blick des Einheimischen gewichen. Keine Frage: Es ist die Zeit der Rentree (??? - Stutzen des bearbeitenden Redakteurs: „Kann der das nicht übersetzen? Versteht doch kein Schw...“ - Moment bitte:)

Das Wort ist unübersetzbar. Wirklich. Weil sein Gegenstand kein Exportartikel ist. Die Rentree ist der Montag des französischen Jahres, der Neuanfang nach dem stillen August, die Rückkehr der Pariser aus der provinziellen Barbarei, das langsame Wiederanwerfen der sozialen Maschinerie - all das, und noch etwas mehr.

Wie alle tiefen Wesenheiten läßt sich die Rentree nur phänomenologisch erdeuten: Die Rentree ist, wenn Batman endlich in die Kinos gelassen wird, obwohl er seit vier Monaten schon synchronisiert vorliegt; Rentree ist, wenn Bernard Pivots geistreichelnde Literatensendung Apostrophes wieder live gesendet wird; Rentree ist, wenn im öffentlichen Dienst wieder gestreikt wird und keiner sich wundert.

Die Rentree ist eine Zeitenwende, nach deren eigentümlichen Gesetzen sich alle zu richten haben. Frankreichs spätsommerlicher Imperativ lautet: Verhalte dich in deinem ganzen Handeln so, daß du deine Rentree nicht versäumst! Denn dann ist das Jahr vertan. Ein schwieriges Unterfangen angesichts der Tatsache, daß sich die Rentree nicht auf ein Datum festlegen läßt. Es gibt die schulische, die literarische, die parlamentarische, die kinematographische, die mondäne und diverse andere Rentrees. Die politische etwa beginnt normalerweise mit der Budgetrede des Premierministers. Aber nicht immer und nicht für jeden Politiker. Nehmen wir den traurigen Fall des Verteidigungsministers Jean-Pierre Chevenement. Der arme Tropf hat in dieser Saison, wie man hierzulande sagt, „seine Rentree verpaßt“. Wollte er doch seinen Türkeiurlaub nicht abbrechen, als die ihm untergebenen Gendarmen rebellierten. Als der Minister endlich eintraf, um Reformen zu versprechen, war alles zu spät: Die Medien hatten mit dem Groll der Gendarme längst ihr Sommerloch gestopft. Chevenement wird jetzt Wochen und Monate brauchen, den verpatzten Start wieder wettzumachen. Ein unverzeihlicher Fehler, tadelte auch Frankreichs höchstes Wesen, Fran?ois Mitterrand, den bemitleidenswerten Parteigenossen, denn auch ein Präsident, der sonst den abgeklärt Zeitlosen mimt („Man muß der Zeit Zeit lassen“, ist eine seiner Lieblingsweisheiten), weiß sehr wohl, daß alles vom richtigen Timing abhängt.

Deswegen ist es nur konsequent, daß sich die Pariser Blätter schon Wochen vor dem Tag X die Zeit mit Rentree -Szenarien vertreiben. Die linksliberale 'Liberation‘ ist die Meisterin dieser Disziplin. Mit der Ernsthaftigkeit eines absolutistischen Hofchronisten spürt sie feinen Nuancen und gewisse Tönen nach, kolportiert sie für taktische Schein-Allianzen und heimliche Seilschaften. Wenn sie zu Höchstform aufläuft, werden die diversen Interdependenzen in den Parteidschungeln in schnittmusterartigen Schaubildern verdeutlicht und üppig kommentiert. Der aufstrebende Liberale Leotard hat sich im Urlaub den linken Arm gebrochen? Aha! - Anlaß für spaltenfüllende Mutmaßungen des 'Liberation'-Reporters über Leotards Strategie für die Rentree.

Doch hören wir auf zu spotten. Schließlich ist die bemerkenswerte Allgegenwart eines Begriffs wie der der Rentree nur in einem Land möglich, das einmal an den absoluten Neubeginn geglaubt hat. Damals vor 200 Jahren. Das auf Kirchturmuhren nicht nur untertänigst geschaut, sondern geschossen hat, um die alte Zeit anhalten zu lassen.

So ist die von den Politikkünstlern (neben der eigenen verpaßten) gefürchtetste Rentree die soziale. Denn die ist fast immer eine heiße. Die Arbeiterklasse hat in den vier Wochen am Strand von Palavas-les-Flots Kräfte gesammelt und alles andere als große Lust, wieder dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hat. Die Revolutionsfeierlichkeiten, das Fest der „Humanite“, tröstet noch einige Tage, dann stellt sich die Frage: Irgendetwas muß sich doch geändert haben? Und da dies meist nicht der Fall ist, wird eben nachgeholfen. Gut erholten Arbeitern stellt sich die Streikfrage oft in einem ganz anderem Licht.

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