: Der Moment des Galopps
Können Pferde schweben oder haben sie beim Galoppieren noch ein Bein auf der Erde? Guy Delisles Graphic Novel „Für den Bruchteil einer Sekunde. Das bewegte Leben von Eadweard Muybridge“ erzählt von den Anfängen der Fotografie und der wissenschaftlichen Forschung im 19. Jahrhundert
Von Ralph Trommer
Gibt es einen Punkt, an dem sich ein galoppierendes Pferd vollkommen vom Boden löst, quasi zu schweben beginnt? Oder berührt doch zu jeder Zeit mindestens ein Huf noch den Boden? Im Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts bewegte diese sehr spezielle Frage eine ausgesuchte Elite. Einmal in Debattierclubs, in denen der Reitsport beliebt war und Superreiche in die Zucht investierten. Auf dem europäischen Kontinent wiederum sahen sich berühmte Pferdemaler herausgefordert und lieferten sich hitzige Wortgefechte mit Wissenschaftlern.
Dem Fotografen Eadweard Muybridge kam die Aufgabe zu, einen handfesten sichtbaren Beweis zu liefern. Damit machte er die Fotografie zu einem wissenschaftlichen Instrument.
Die Comicbiografie „Für den Bruchteil einer Sekunde“ von Guy Delisle handelt vom „bewegten Leben“ – so der Untertitel – dieses Eadweard Muybridge (1830–1904). Das ist nicht zu viel versprochen, denn der Werdegang des heute fast nur in Fachkreisen bekannten Pioniers war durchaus turbulent, enthielt Abenteuer- und Wildwestelemente.
Der Engländer wanderte 1855 in die Vereinigten Staaten aus, arbeitete zunächst als Buchhändler in New York und San Francisco. Eines Tages verunglückte er während einer Postkutschenfahrt schwer und erholte sich davon danach in England. Nach dem Sezessionskrieg kehrte er zurück nach Kalifornien, um sich der neuen Kunstform der Daguerrotypie (dem Vorläufer der Fotografie) zuzuwenden.
Der im kanadischen Québec geborene und heute in Frankreich lebende Comiczeichner Guy Delisle, (u. a. „Pjöngjang“, „Lehrjahre“) ist für seinen einfachen, leicht cartoonigen Zeichenstil bekannt. Lange arbeitete er in Trickfilmstudios und ist so sicher schon früh Eadweard Muybridges Fotoserien begegnet, die Animatoren bis heute als Vorlagen für Bewegungen dienen. In seiner Comicbiografie erzählt er dessen Karriere auf pointierte Weise nach. Dabei wird deutlich, dass der hagere Mann mit dem charakteristischen Rauschebart zu seiner Zeit wirklich Neuland betrat. Während sich die meisten Fotografen auf Porträts beschränkten, war Muybridge auf der Suche nach neuen, attraktiven Motiven.
Ikonische Landschaften
Als einer der Ersten nahm er ikonische amerikanische Landschaften auf, wie das Yosemite Valley oder die Leuchttürme an der Pazifikküste. Des Weiteren erfand er die 360-Grad-Panoramaaufnahme, um einen Überblick von San Francisco einzufangen. Zur Veranschaulichung integriert Delisle Muybridges wichtigste erhaltene Werke in seine Novel.
Auch Reportagefotografie nahm Muybridge vorweg, als er 1867 den neuen Bundesstaat Alaska in Fotoserien porträtierte. 1872/73 wurde er vom Kriegsministerium beauftragt, einen der blutigsten Konflikte zwischen Indigenen und Europäern zu dokumentieren, den Modoc-Krieg in Oregon. Der Fotograf wurde zur Berühmtheit, und so hörte Leland Stanford, ein einflussreicher Politiker und Unternehmer (er war zeitweise Gouverneur Kaliforniens und Präsident der Eisenbahngesellschaft), von dessen Talent.
Für seinen wichtigsten Förderer fotografierte Muybridge zunächst dessen Anwesen „Stanford Mansion“. Stanford war auch derjenige, der Muybridges Interesse auf die Tierfotografie lenkte. Als Rennpferdezüchter wollte er genau wissen, wie sich Pferde bewegten, um Schlüsse für das Training seiner Tiere zu ziehen. Muybridge und Stanford ließen sich von den Erkenntnissen des französischen Wissenschaftlers Étienne-Jules Marey inspirieren, der in Studien herausgefunden hatte, dass Pferde im Galopp vom Boden abheben.
12 Kameras nebeneinander
Diese umstrittene These spornte Muybridge über Jahre zu Experimenten mit mehreren Kameras auf Stanfords Ranch in Palo Alto an, die die Galoppbewegung lückenlos dokumentieren sollten. 1878 gelang ihm nach einer Perfektionierung seiner Technik der Durchbruch und er schuf mithilfe von 12 nebeneinander auslösender Kameras die legendäre Fotoserie um Stanfords Pferd „Sallie Gardner“.
Muybridges Pioniertat sollte aber nicht das Einzige bleiben, mit dem er Aufsehen erregte. In rasender Eifersucht erschoss er bereits 1874 den Liebhaber seiner Frau, wurde deshalb in einem spektakulären Prozess angeklagt. Guy Delisle stellt die Mordszene in einer doppelseitigen Sequenz nach, die Muybridges „Einfrieren der Zeit“ geradezu filmisch (à la „Matrix“) und zugleich komisch in die Comicform übersetzt.
Muybridge setzte seine Bewegungsstudien mit anderen Tieren aber auch mit Menschen fort, unter anderem auch für die Forschung an einer Universität. In Europa hielt er Bildervorträge, die bereits Filmvorführungen vorwegnahmen. Als obsessiver Tüftler erfand er wesentliche Grundlagen für die Film- und Projektionstechnik wie auch für die Stop-Motion-Animation.
Guy Delisle gelingt mit seiner Comicbiografie ein eindringliches Porträt eines so eigenwilligen wie bedeutenden Vorläufers der Kinematografie in einer Zeit sich überschlagender technischer Fortschritte. Die Experimente in Palo Alto legten einen Grundstein für die heutigen Tech-Labore dort und des Silicon Valley. Dabei verbindet der Zeichner gekonnt Wissensvermittlung mit einer satirischen Darstellung der in den USA und Europa miteinander vernetzten Erfinderkreise.
Guy Delisle: „Für den Bruchteil einer Sekunde. Das bewegte Leben von Eadweard Muybridge“. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. Reprodukt Verlag, Berlin 2025, 208 Seiten, 26 Euro
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