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Der Moment, der alles verändert

■ Wie verkraften es Familien, wenn ein Angehöriger ein Verbrechen begeht?

Unsicher und etwas verloren steht der junge Mann in dem kleinen kahlen und unwirtlichen Besucherraum der Justizvollzugsanstalt. Ein Anflug von Oberlippenbart und die dunklen Augen sind das Auffälligste in dem vom Leben wenig geprägten Gesicht. Sein Händedruck ist zögerlich und weich. Heinz S. wurde im Februar zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil er mit drei Komplizen einen bewaffneten Raubüberfall gemacht hatte.

Das Verbrechen hat nicht nur das Leben von Heinz S. verändert, sondern vor allem das seiner Familie. Die Geschichte beginnt an einem Februarabend in einer Dorfkneipe. Vier junge Männer — alles Söhne aus gutem Hause — planen einen Banküberfall. Warum sie das tun, kann hinterher keiner von ihnen so richtig erklären. Die ortsansässige Sparkasse eignete sich nach Ansicht des Quartetts hervorragend für einen Überfall, denn abends arbeitet dort nur noch ein Angestellter. Die vier planen den Mann mit einem Knüppel niederzuschlagen, das vorhandene Geld zu nehmen und zu verschwinden.

Nachdem sich die vier genügend Mut angetrunken haben, gehen sie ans Werk. Doch der Überfall läuft nicht nach Plan. Der Bankbeamte geht nicht beim ersten Schlag zu Boden, sondern bricht erst nach mehreren Hieben zusammen. Panik steigt in den vier Bankräubern auf. Hastig raffen sie das Geld zusammen und fliehen. Mit sinkendem Alkoholspiegel aber steigt die Angst, und am liebsten hätten sie alles rückgängig gemacht. Dazu ist es aber zu spät. Sie fahren nach Frankfurt und stehen wieder in einer Kneipe. Doch jetzt ist aus dem Räuber- und Gendarmspiel blutiger Ernst geworden. Heinz ruft seine Eltern an, um ihnen zu sagen, daß er in dieser Nacht nicht nach Hause kommt. Die Eltern aber wissen längst, was passiert ist.

Als die Polizei ihren Sohn abholen will, sitzen sie beide vor dem Fernseher. „Ihr Sohn ist dringend verdächtigt, einen Raubüberall begangen zu haben“, erzählen sie den entsetzten Eltern. Als der Junge anruft, raten sie ihm, sich sofort zu stellen und versprechen ihm zu helfen. Die folgenden Wochen und Monate aber werden zum Alptraum für die gesamte Familie. Der krebskranke Vater, der gerade von einer Behandlung aus der Klinik nach Hause zurückgekehrt ist, erleidet einen Rückfall, die Mutter braucht psychiatrische Hilfe. Die gesamte Familie grübelt über die Ursachen der Tat nach, doch keiner kommt zu einem vernünftigen Ergebnis. „Unser Heinz war halt immer schon ein Luftikus, ein Diskojünger und Hans Dampf in allen Gassen“, sagt der Vater heute. Er verweist auf die übrigen fünf Kinder, die alle anständig sind. Für sie trägt Heinz allleine die Schuld.

Es gibt kein soziales Feld, auf dem die Verteilung von Schuld gründlicher und konzentrierter vonstatten geht, als in der Familie, dem Hort des elementaren Lernens und sozialen Verhaltens. Der unbotmäßige Sohn, die quertreibende Tochter mögen von Psychologie und Sozialtherapie auf dem Verursacherkonto der Eltern oder der Gesellschaft verbucht werden. Die Eltern sehen und handhaben es anders: Die Kinder haben sich auf schlechte Gesellschaft eingelassen, sind aus der Art geschlagen, werden mit ihren Pubertätsproblemen nicht fertig.

Sebastian H. stolperte über Geltungssucht und seinen Konsumzwang. 35 Jahre war er der Stolz seiner Familie — ein guter Schüler, ein fleißiger Student und erfolgreicher Geschäftsmann. Armut und Verzicht kannte er nur aus Erzählungen seiner Eltern, die sich in langen entbehrungsreichen Jahren Wohlstand, Ansehen und Sicherheit erwarben. Dem Nachkömmling hingegen fehlte es nie an etwas, und er erwies sich als würdiger Nachfolger.

Eines Nachmittags erreichte die Eltern ein Anruf, der alles zerstörte, was sie erreicht und wofür sie ein Leben lang gekämpft hatten: Glück und Zufriedenheit. Der Anruf katapultierte sie in eine unwirtschaftliche Welt, in der Täter und Opfer, Polizei und Richter und schließlich Wärter und Gefangene die Hauptrollen spielen.

Der Mann am anderen Ende der Leitung stellte sich als Rechtsanwalt ihres Sohnes vor, den man soeben verhaftet hat, weil er seine Geschäftspartner um Millionen betrogen haben soll. Als der Vater seinen Sohn wenig später in Handschellen sieht, verliert er wohl zum ersten Mal in seinem Leben die Fassung und weint.

Wenn ein Mensch kriminell wird, werden schnell Erklärungen gefunden, was ihn zur Tat trieb. Lieblosigkeit in der Familie, psychische Schäden oder die Behauptung, er sei eben „von Natur aus schlecht“, sind die häufigsten Erklärungen.

Bei Menschen aus „gutem Hause“ findet man meist andere Begründungen. Die Tat wird als einmaliger „Ausrutscher“ betrachtet, als „Dummer-Jungen-Streich“ oder aber der „schlechten Gesellschaft“ zugeschrieben, in die das Familienmitglied unfreiwillig hineingeraten ist.

Sebastian H. hat seine Eltern ruiniert. Sie setzten nicht nur ihr gesamtes Vermögen ein, sondern verschuldeten sich zusätzlich, um den vom Sohn verursachten Schaden wiedergutzumachen. Ihr Eintreten für den Sohn und Wiedergutmachung sorgen für ein mildes Urteil und schon nach wenigen Wochen wird die ausgesprochene Haftstrafe von drei Jahren in eine offene umgewandelt. Der gefallen Sohn kehrt in die Familie zurück.

Auch Heidemarie S. wird nach Verbüßung ihrer Haftstrafe wieder in ihrer Familie aufgenommen. Als 19jährige wurde sie zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ihr Kind verhungern ließ. Auch in ihrer Familie schlug die Tat wie ein Blitz ein.

Die Großeltern, bei denen das Mädchen aufgewachsen ist, nach dem Tod der Mutter, sitzen am Frühstückstisch, als die Nachricht eintrifft, daß die Enkeltochter festgenommen wurde. Daß eines Tages ein Anruf wegen Heidemarie kommen würde, hatte Ewald S. geahnt. Seit das Mädchen anfing, eigene Wege zu gehen und dabei in schlechte Gesellschaft geriet, hatte der Mann immer mit einem Anruf von der Polizei gerechnet. Noch heute packt ihn die Wut, wenn er erzählt, wie das brave Mädchen plötzlich aus dem Ruder lief. Nachts kam sie nicht mehr nach Hause, in der Schule ließ sie sich auch nur noch selten blicken und schließlich verschwand sie spurlos. Doch abgerissen und schwanger kehrte sie nach Tagen zurück. Sie blieb nur für kurze Zeit, dann zog sie zu ihrem Freund, einem Mann, der nicht nur doppelt so alt war wie das damalige 17jährige Mädchen, sondern der sich, wie die Großeltern mehrfach erleben mußten, auch nicht viel aus ihr machte. Der Großvater wendet sich in seiner Not an die Jugendbehörde, will mit deren Hilfe verhindern, daß Heidemarie auszieht, doch er findet kein Gehör.

Als Heidemarie mit ihrem Freund zusammen wohnt, kommt es zwischen ihnen immer häufiger zu heftigen Szenen, vor allem nachdem das Kind da ist. Eines Tages setzt der Mann Freundin und Sohn vor die Tür. Das Sozialamt besorgt ihr eine Wohnung und die Großeltern helfen beim Einrichten. Nun lebt sie mit dem Kind allein. Der Junge, eine Frühgeburt, braucht viel Pflege. Zunächst wird die junge Mutter den Anforderungen auch gerecht, doch dann fällt es ihr auch immer schwerer. Sie verkraftet das Alleinsein nicht, braucht die Nähe von Menschen, die sie im Alltag unterstützen. Eines Tages geht Heidemarie aus dem Haus, läßt ihr Kind alleine und kommt nie wieder. Wie lange der Kleine noch lebte, kann nur geschätzt werden. Fünf Wochen nachdem Heidemarie die Türe hinter sich zugeschlossen hat, findet man die Leiche des Kindes.

Die Folgen, unter denen Familien zu leiden haben, wenn ein Familienangehöriger ein Verbrechen begeht, sind oft verheerend. Ist ein Kind der Täter, stehen die menschlichen Probleme im Vordergrund. Der Name der Familie taucht in den Zeitungen auf, anonyme Drohungen per Telefon oder per Post sind nicht selten. Nachbarn wenden sich ab, Freunde und Verwandte distanzieren sich.

Doch selbst wenn die Umwelt vernünftig reagiert, fordert das Geschehen seinen Preis. Gesundheitliche Schäden sind die Regel. Die Mutter von Sebastian bekam einen Schlaganfall, die von Heinz S. mußte in psychiatrische Behandlung, während sein krebskranker Vater einen Rückfall erlitt und Heidemaries Großvater leidet noch immer an den Folgen eines Nervenzusammenbruchs.

Sind Vater und Mutter straffällig geworden, tauchen zusätzliche Probleme auf. Den Kindern werden die wichtigen Bezugspersonen entzogen, sie müssen nicht selten ins Heim oder werden bei Verwandten hin und hergeschoben. In Kindergarten und Schulen werden sie oft zu Außenseitern. Die Familien kämpfen in der Regel mit großen finanziellen Sorgen, wenn der Ernährer inhaftiert wird. Die Familie wird schnell ein Fall für die Behörden. „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der Behörden.“ So steht es in Artikel 6 des Grundgesetzes. Für Familien, die ein schwarzes Schaf in ihrer Mitte haben, scheint dies offensichtlich nicht zu gelten. Sie werden mitbestraft. Jürgen Dielmann, Butzbach

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