■ Der Mensch ist frei. Seine Moral erlernt er durch Imitation, nicht durch Einsicht. Eine kleine Polemik gegen das Gute und die Guten: Bleib redlich – es ist ohnehin sinnlos
Warum nicht den Freund erwürgen und dessen Freundin anschließend vergewaltigen? Das tut man nicht. Denn unsere Moral, die Summe ethischer Werte, befiehlt, das Böse zu unterlassen und das Gute zu tun. Seit Moses und den legendären Geboten, die er sich ausdachte, fußen die Buchreligionen Judentum, Islam und Christentum auf verwandten Werten. Und nicht nur die: Auch Buddhisten oder Hinduisten bringen niemanden um und schänden weder Frauen noch Kinder, lügen nicht, ehren Vater und Mutter und geben den Bedürftigen etwas von ihrem Reichtum ab, wenn sie gute und moralische Menschen sein wollen.
Der Kern jedweder Moral besteht aus nur einem Satz: Behandele die anderen so, wie sie dich behandeln sollen. Dann wird alles gut. Und dem Zusatz für die, die danach schielen, was die anderen tun: Einer muß ja damit anfangen. Das Ergebnis und Versprechen, wenn der Mensch nach ethischen Werten lebe: „Tue nichts Böses, so widerfährt dir nichts Böses.“ (Die Bibel, Sirach 7,1)
Das ist natürlich Unfug, zeigt aber das Dilemma der Kirchen hierzulande, der klassischen Dienstleistungsunternehmen in Sachen Moral: Der Mensch ist frei, sich zu entscheiden, das Leben als Ausbeuter, Warlord oder KZ- Aufseher zu verbringen. Er darf sich nur nicht erwischen lassen.
Der Appell der Moralapostel an die Einsicht, wenn man egoistisch sei und nach der Maxime lebe „nach mir die Sintflut“, sei ein geregeltes Miteinander unmöglich, verhallt seit spätestens dem Neolithikum. Entscheide dich, Hammer oder Amboß zu sein – für Jugendliche ist häufig der ein moralisches Vorbild, der sich traut, gesellschaftliche Tabus zu übertreten. Das Motiv, ein guter Mensch zu sein, weil man aus Angst vor Strafe zu feige ist, nur dem bösen Instinkt zu folgen, ist nicht hinreichend. Wer, wie etwa im Islam und im Christentum, mit – im wahren Sinn des Wortes – höllischen Strafen bei Zuwiderhandlungen gegen die moralischen Gebote drohen muß, ist kein guter Mensch, sondern nur ein Angsthase.
„Dein Wille sei das Gesetz“, sagte der Junkie und Satanist Aleister Crowley und beschrieb damit die Maxime für unzählige Western, Eastern und reale Kriege. Dem bösen Rambo geht es am Gesäß vorbei, wenn ihn jemand als moralisches Schwein bezeichnet. Jemand, der weder Warlord, Miethai noch Anführer einer prügelnden Glatzen-Gang ist, kann sich entscheiden: Suche ich Geborgenheit bei denen, die Angst und Schrecken verbreiten, weil sie auf Moral pfeifen, und habe dann meine Ruhe, oder traue ich mich zu rebellieren?
Der Tatmensch, der Verantwortung übernimmt, gilt als moralisches Vorbild, auch im Kleinen, wenn es darum geht, die Wohngemeinschaftstoilette zu putzen. Es gibt jedoch auch Tatmenschen, die frönen öffentlich und mit Lust der Polygamie, leben in Saus und Braus, metzeln aus niederen Beweggründen Frauen und Kinder und scheren sich den Teufel (!) um den Rest der Bevölkerung, der viehisch dahinvegetiert. Und kein höheres Wesen läßt einen Blitz vom Himmel darniederfahren, um diesen ruchlosen Gesellen und schlechten Vorbildern Einhalt zu gebieten.
Auch das Motiv, ein guter Mensch zu sein, weil die Mitmenschen wie zu Weihnachten des Lobes voll sind, wenn die Spendengelder fließen und damit das soziale Prestige steigt, ist unglaubwürdig. Jemand, der öffentlich ein guter Mensch ist, sollte mit äußerstem Mißtrauen betrachtet werden.
Welches Motiv hatte der Nazi, Spieler und Frauenheld Oskar Schindler, Juden vor dem Tod zu retten? War er ein asketischer, moralinsaurer und guter Mensch, der peinlich die Gebote beachtete, die ihm die herrschende Moral vorschrieb? Keine Macht den Drogen, mein Freund ist Ausländer, Fairständnis? Wir wissen wenig, nur das: Schindler war ein Außenseiter, und er hatte Zivilcourage wie nur wenige. Sind das die Voraussetzungen, ein guter Mensch zu sein, und wie kann man Kinder und natürlich auch Erwachsene dazu erziehen?
Religion, irrigerweise häufig mit Moral verwechselt, ist eine Weltsicht als Folge subjektiver Erfahrung: Man glaubt, ohne nachzudenken, oder man läßt es. Das kann niemand unterrichten, schon gar nicht in der Schule. Kein Lehrplan kann die Akzeptanz einer transzendenten Realität jenseits der Vernunft vermitteln. Und kein gläubiger oder sonstwie esoterisch angehauchter Mensch wird behaupten, religiöse Erfahrungen, verbunden mit moralischen Maßstäben seien eine frühkindliche Prägung, etwa nach Art der Lorenzschen Graugänse, die im Religions- oder Ethikunterricht vorzunehmen sei. Was könnte „Ethikunterricht“ sein: ein Warenhaus der ethischen Normen von Angst vor der Apokalypse bis Zen? Oder die Präsentation von Verhaltensregeln, deren Vorteile für Individuum und Gesellschaft anhand anschaulicher Beispiele den Schülern erläutert werden soll?
Um Nächstenliebe alias Solidarität zu üben, dazu braucht man weder Götter, die Strafen androhen, noch Pfaffen, die fromme Heiligenlegenden in schriftlicher Form als moralisches Vorbild überliefern. Werdet wie die Kindlein, sagt die Bibel: Die Moral lernt der Mensch durch Imitation. Und fast alles, was man an Verhalten und an ethischen Werten lernt, lernt man in früher Kindheit und unbewußt und von denen, die man liebt und bewundert. Wer das ist, dafür können wir nichts.
Der Mensch ist frei: Eine schlechte Kindheit zwingt niemanden dazu, das Böse zu tun und das Gute zu unterlassen, genausowenig wie umgekehrt. Wer keine existentiellen Probleme hat, kann sich den Luxus moralischer Maßstäbe leisten – etwa: Du sollst nicht stehlen. Andere können das nicht: Was Moral heißt, wenn es ans Eingemachte geht, kann man in der deutschen Drogenszene oder unter Straßenkindern in kolumbianischen Großstädten live erleben.
Religion ist nur eine Krücke, die einem falsch, aber einleuchtend erklärt, warum das so ist. Religion als Wertevermittler ist ein Notbehelf, der den Sinn von Moral aus Tatbeständen herleitet, die nicht beweisbar sind. Der Sinn des Lebens und der Moral erschließt sich ebensogut aus der Lektüre der aktuellen Lehrbücher der theoretischen Physik, inklusive Quantenchromodynamik und der Theorie der Strings. Es gibt keinen. Alles ist eitel, sagt die Bibel. Übersetzt: Was man sich auch einbildet, was richtig und gut sei, kann sich als Illusion erweisen, einschließlich des eigenen Ichs. Deshalb gilt: Tue Gutes. Es ist ohnehin sinnlos. Burkhard Schröder
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