■ Der Maghrebspezialist Werner Ruf schrieb ein informatives Buch über die algerische Tragödie. Seine Studie zieht einen weiten Bogen von der Kolonialzeit bis zur Entstehung der Islamischen Heilsfront: Teufelskreis der Gewalt in Algerien
Wie viele Tote hat der algerische Bürgerkrieg bisher gefordert? 50.000? 100.000? 120.000? Beinahe täglich vermelden unterschiedliche algerische Institutionen Massaker aus dem nordafrikanischen Land. Fast immer gibt es Anlaß zu Zweifeln, zur Vermutung, die Angaben seien lanciert, die Quelle selbst Partei in dem seit fünfeinhalb Jahren anhaltenden Gemetzel. Seriöse Informationen sind dank der restriktiven Informationspolitik der Regierung kaum noch zu bekommen. Die Folge: Das Massaker wird zur Kurzmeldung in der taz und anderen Medien, Algerien droht aus der Berichterstattung zu verschwinden – und damit auch die Ursachen und Hintergründe des blutigen Konflikts.
Ein deutscher Politikwissenschaftler und Maghrebspezialist versucht, diesem Vergessen etwas entgegenzusetzen. Eine „Studie“ nennt Werner Ruf, Professor für Internationale und Intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Gesamthochschule Kassel, sein aktuelles Buch. Unter dem weniger wissenschaftlichen Titel „Die algerische Tragödie“ versucht der Autor, „die Entwicklungslinien einer Gesellschaft daraufhin zu untersuchen, inwieweit objektive Faktoren und Prozesse vorhanden sind, die das Abgleiten der algerischen Gesellschaft in einen schier unlösbaren Teufelskreis von Gewalt nachvollziehbar machen“. So im Vorwort. Sein hehres Motiv: „Allein in einer solchen Analyse können Ansatzpunkte für einen möglichen Ausweg gefunden werden.“
Der wissenschaftliche Duktus zieht sich durch das ganze Buch und macht es nicht gerade zur Bettlektüre. Doch die Mühe lohnt sich: Ruf analysiert die Entstehungsgeschichte des Konflikts. Die reicht zurück in „die radikale Transformation der algerischen Gesellschaft“ durch 132 Jahre Kolonialzeit unter den Franzosen, über den Befreiungskrieg zu den verschiedenen Phasen der Unabhängigkeit bis hin zum – wie Ruf formuliert – „Versagen des FLN-Staats insbesondere im Bereich der Sozialpolitik“.
Der Linke Ruf beschreibt, wie sich die in Europa von Linken gefeierten algerischen Herrscher der Einheitspartei „Nationale Befreiungsfront“ (FLN) in internen Machtkämpfen aufrieben und korrumpierten. Sie vermischten Islam, Sozialismus und Nationalismus zu einer kruden Mischung, die letztlich nur noch dazu diente, die eigene Herrschaft zu legitimieren. O-Ton Ruf: „Die dekadente politische Klasse scheiterte an den von ihr selbst stets propagierten Maßstäben“ – und sie gebar die Islamische Heilsfront (FIS).
Viele Anhänger der ab 1991 von den Machthabern brutal verfolgten Islamisten – darunter der im Juli nach sechs Jahren Polithaft entlassene Vorsitzende Abbassi Madani – waren einst Mitglieder der FLN. Sie unterstützten deren Islamisierungspolitik und fielen schließlich in Ungnade, weil sie diese Ideologie zu konsequent weiterverfolgten – und sich für die Belange der verarmenden Bevölkerung einsetzten. Resultat war der sich abzeichnende überwältigende Wahlsieg der FIS nach dem ersten Wahlgang der ersten freien algerischen Parlamentswahlen 1991/92 und der anschließende sogenannte kalte Putsch der bisherigen Machthaber.
Es wirkt wie einen Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet diese, einst vorgeblich sozialistischen, Regenten heute von Weltbank, Internationalem Währungsfonds und Ölkonsortien hofiert werden – als angebliche Garanten der wirtschaftlichen Öffnung und Stabilität des Landes. Ruf rechnet vor, daß sich nach dem Diktat der internationalen Geldinstanzen die Versorgungslage der algerischen Bevölkerung noch mehr verschlechtern wird, die vor allem im Bereich Sozialpolitik attraktiven Islamisten voraussichtlich weiteren Zulauf bekommen werden.
Dem gelegentlich für die Marxistischen Blätter schreibenden Ruf wird wahrscheinlich von linker Seite vorgeworfen werden, er schlage sich auf die Seite der Islamisten. Tut er nicht. Er beschreibt und erklärt – wie im Vorwort seines Buches versprochen – „das Abgleiten der algerischen Gesellschaft in einen schier unlösbaren Teufelskreis von Gewalt“. Doch: Einen ernsthaft „möglichen Ausweg“ aus dem Konflikt und den täglichen Morden bietet er nicht. Wie auch? Thomas Dreger
Werner Ruf, „Die algerische Tragödie. Vom Zerbrechen des Staates einer zerrissenen Gesellschaft“, agenda Verlag, Münster 1997, 171 Seiten, 29,80 DM
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