: Der Lauf der Gefühle
Irina Slutskaja leidet an einer schweren Gefäßkrankheit und holt sich in ihrer Heimatstadt Moskau den Titel als Weltmeisterin im Eiskunstlauf – die Zuschauer im russischen Operettenpalast feiern die neue Titelträgerin und Tränen fließen in Strömen
AUS MOSKAU DORIS HENKEL
Es rannen die Tränen. Sie rannen morgens, mittags, abends und selbst während der Kür. Und nicht nur das. Als sich Irina Slutskaja in der letzten Pirouette drehte, konnte sie nichts mehr sehen, kaum noch atmen. Zum Stand gekommen, nahm sie einen Moment später blinzelnd wahr, wie die Leute von den Sitzen sprangen, wie sie Fahnen schwenkten und Stofftiere aufs Eis warfen. Dutzende bunter Stofftiere, und es ist nicht ganz auszuschließen, dass selbst Teddybären, Hasen und Tiger beim Anblick der unter Tränen glücklichen Irina vor lauter Rührung ein wenig schnüffeln mussten. Wer ohne Taschentuch zum Eiskunstlaufen, geht ist selber schuld; in der schillernden Operette sind Tränen nicht selten Teil der Inszenierung. Aber diesmal war alles echt. Denn Irina Slutskaja, 26, ist das Gegenteil einer kapriziösen Eisprinzessin. Inmitten all des Glamours schminkt sie sich nicht mal, und wenn eine wie sie nicht mehr atmen, nichts mehr sehen kann, dann ist wirklich was passiert.
Es geht nicht nur darum, dass sie den Titel gewonnen hat, den zweiten nach 2002. Der Name Slutskaja ist in der Welt des Eiskunstlaufs seit vielen Jahren ein Begriff; schon vor neun Jahren gewann sie den ersten ihrer inzwischen sechs EM-Titel und ein paar Wochen später als Dritte auch die erste Medaille bei Weltmeisterschaften. Und es geht auch um mehr als um Ausdauer in einer Sportart, in der man als Frau mit Mitte 20 gewöhnlich als alt gilt. Sie wäre froh, wenn sie sich über solchen Unfug Gedanken machen müsste und nicht über massive Einschränkungen ihres Lebens, das vor zwei Jahren aus den Fugen geraten ist. Während des Grand-Prix-Finales im Herbst 2003 in St. Petersburg war ihre Mutter Natalja vor ihren Augen mit Nierenversagen zusammengebrochen; eine lebensbedrohliche Situation, die damals vermutlich nur nicht zum Schlimmsten führte, weil der russische Mannschaftsarzt in der Nähe war und helfen konnte. Seither ist Natalja Slutskaja Dialysepatientin, und ohne die finanzielle Unterstützung der Tochter ginge es ihr nicht gut.
Doch die brauchte 2003 selbst jede Hilfe. Wochenlang hatte sie keine Ahnung, was ihr fehlte. Als die Ärzte endlich herausfanden, dass sie unter Vaskulitis leidet, einer Entzündung der Gefäße, sah es so aus, als sei das das Ende ihrer Karriere. Es hat Tage gegeben, an denen sie morgens beim Aufwachen die Beine nicht mehr bewegen konnte, und ohne Medikamente käme sie auch heute noch nicht zurecht. „Die Krankheit reagiert auf alles“, sagt Irina Slutskaja, „Stress, Anstrengung, auch auf psychische Belastung.“ Also auf genau das, was der Leistungssport zwangsläufig mit sich bringt. Die Medikamente helfen, aber sie tun ihr nicht gut; mal ist ihr zum Lachen, zehn Minuten später steigen ihr die Tränen in die Augen. Dennoch sie ist entschlossen, weiter das zu tun, woran sie mit ganzem Herzen hängt. „Ich hoffe, dass ich für Leute, die krank sind, ein gutes Beispiel dafür bin, dass alles möglich ist – auch wenn es so aussieht, als ginge nichts mehr.“
Als sie vor knapp zwei Monaten in Turin zum sechsten Mal Europameisterin wurde, war es ein glanzloser Sieg; die Preisrichter machten sie trotz einer enttäuschenden Kür zur Siegerin eines ebenso enttäuschenden Wettbewerbs. In Moskau – der Stadt, in der sie mit ihrem Mann, einem Sportlehrer, lebt und nebenbei Schauspiel studiert, – lief sie dagegen in großartiger Form. Doch sie brauchte dafür alle Kraft. Normalerweise kann sie es nicht ausstehen, wenn ihr Freunde oder Familienmitglieder zuschauen, und noch nicht mal ihren Mann wollte sie in der Halle wissen während ihres Auftritts. Doch nun saßen tausende von Menschen auf der Tribüne, die im weiteren Sinne Freude sind, und sie sagt, es sei ihr ungeheuer schwer gefallen, mit dieser Situation umzugehen. Vor all den Leuten und für all die Leute den Titel zu gewinnen. Sie nicht zu enttäuschen.
Aber nun ist alles gut. „Ich bin stolz darauf, in dem Moment mein Bestes gezeigt zu haben, als es am meisten darauf ankam“, sagt Irina Slutskaja. Wer will sich da wundern, dass die Tränen schneller flossen als das Wasser der eisigen Moskwa.