piwik no script img

Der Krypto­konformist

Kaum ein Thema scheint derzeit aufregender als die „Querdenken“-Bewegung. Wollen sie den großen Umsturz? Schwierige Frage. Zwar versuchen Rechte und Reichsbürger, teils erfolgreich, den Protest zu kapern. Doch zumindest ihr Initiator Michael Ballweg wirkt aufrichtig unbedarft. Oberbürgermeister in Stuttgart will der politische Newcomer dennoch werden.

Eigentlich wollte Michael Ballweg, 46, auf Weltreise gehen. Dann kam ihm die Pandemie dazwischen. Foto: Jens Volle

Von Minh Schredle↓

Am 14. Juni 2009 wendet sich Michael Ballweg erstmals an die Twitter-Gemeinde: „Europapark neue Achterbahn ist echt ne Wucht. Blue Core mega­coster. Aber Warte­zeit nervt …“ Während eine weltweite Wirtschaftskrise wütet und Banken, die fremdes Geld verzockt haben, auf Kosten der Gesellschaft gerettet werden müssen, um das gesamte Finanzsystem vor dem Kollaps zu bewahren, sind Ballwegs damalige Wortmeldungen im Netz vor allem eins: bemerkenswert unpolitisch. 2009 formuliert der „Querdenken“-Initiator noch keine radikale Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Er zeigt sich begeistert vom neuen iPhone („echt cool. Und wirklich sehr sehr sehr flott!“) und vom neuen Windows-Betriebssystem. Sorgenfreie Postings aus einer Zeit, in der Bill Gates noch nicht als übler Bösewicht erschien.

Bis Ballweg in den sozialen Netzwerken erstmals einen erkennbar politischen Inhalt verbreitet, dauert es zehn Jahre. Dann, am 4. November 2019, teilt er einen Artikel über Edward Snowden, den „bekanntesten Helden und/oder Verräter der jüngeren US-Geschichte“, wie es im zugehörigen Bericht heißt. Das könnte für Ballweg der Auftakt eines Prozesses sein, der in manchen Kreisen als Aufwachen bezeichnet wird.

So ist der „Querdenken“-Chef zu Beginn der Pandemie noch ganz auf Regierungslinie. Ende Februar teilt er einen Artikel der Schweizer Onlinezeitung „Republik“, der ein klares Plädoyer enthält, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen, sondern Zweifel zuzulassen in einer so hochkomplexen Gemengelage: „Die Informationen, die wir lesen und hören, ändern sich fast von Tag zu Tag, nichts scheint gewiss.“

Michael Ballweg jedenfalls lässt Zweifel zu, fundamentale Zweifel sogar. Am 14. März postet er noch, unter dem Motto #FlattenTheCurve, ein satirisches Video, das den amtierenden US-Präsidenten als Vollidioten verhöhnt und aufzeigt, wie egoistisches „Arschlochverhalten“ in einer Pandemie schnell zur lebensbedrohlichen Gefährdung für Risikopatienten werden kann. Doch bereits am Monatsende ist Ballwegs Kurs ein ganz anderer: Er sorgt sich nun um die Grundrechte, teilt einen offenen Brief von Dr. Sucharit Bhakdi an die Kanzlerin und Artikel von KenFM, die fragen, wann der Widerstand zur Pflicht wird. Ballweg beschließt, selbst aktiv zu werden. Im April richtet er erste „Mahnwachen für das Grundgesetz“ in Stuttgart aus, die klein anfangen und schnell wachsen.

Quelle: Bauchgefühl

Aus den regionalen „Querdenken711“-Protesten ist in wenigen Wochen eine bundesweite Bewegung entstanden. Zurück von der Großdemonstration in Berlin, strahlt Ballweg am 9. August triumphierend von einer Bühne im Stuttgarter Schlossgarten herunter und spricht für das nächste große Datum, den 29. August in Berlin, sogar eine Einladung an den einst verhöhnten Donald Trump aus (nachdem er einen gefälschten Tweet für bare Münze nahm und davon ausging, der US-Präsident hätte den „deutschen Patrioten“ von der „Querdenken“-Bewegung alles Gute gewünscht). Gegen Ende seiner Rede formuliert der IT-Unternehmer einen Appell, der ein wenig erratisch erscheint. Wörtlich: „Ich bin ein sehr feinfühliger Mensch und in den letzten Wochen häuft sich ein Begriff, und ich habe das gleiche Bauchgefühl wie im April, dass ich diesem Begriff nachgehen soll. Und dieser Begriff heißt: Friedensvertrag. Ich weiß nicht, was an diesem Thema dran ist. Was ich aber weiß, ist, Querdenken heißt: Dinge zu hinterfragen und zu prüfen, Meinungen zuzulassen, und deswegen möchte ich alle anregen, zu diesem Thema zu recherchieren und zu prüfen. Wir selbst stehen bereits in Kontakt mit erfahrenen Staatsrechtlern, um ein genaues Bild zu erhalten.“ Alles kann, soll, muss hinterfragt werden. Nur das Bauchgefühl nicht.

Der „Querdenken“-Pressesprecher Stephan Bergmann nennt das Grundgesetz „Besatzungsrecht“ – so wie es unter Reichsbürgern beliebt ist. Bergmann, der über sich selbst sagt, „immer nur der inneren Gewissheit“ zu folgen, ist laut Recherchen des „Zeitungsverlags Waiblingen“ (ZVW) ein Gründungsmitglied des Schorndorfer Reichsbürgervereins „Primus inter pares“, den der baden-württembergische Verfassungsschutz dem rechtsextremen Milieu zurechnet.

Gegenüber dem ZVW sagte Bergmann, er habe von diesem Verein „seit vielen Jahren nichts mehr gehört“. Aller­dings gab der „Querdenken“-Sprecher dem AfD-Politiker Stefan Bauer vor nicht allzu langer Zeit ein Interview. Darin sagt der Trommeltherapeut mit Herz für Blumenkränze: „Was ich schon oft gehört habe von verschiedenen Sehern und von verschiedenen Prophezeiungen: Dass das deutsche Volk, also wahrscheinlich ist das deutschsprachige Volk insgesamt gemeint, dass von diesem Gebiet aus und von dieser, ja, Menschenseele, dass da die Befreiung der Welt geschehen wird.“ Da ist es wohl nur konsequent, wenn Bergmann im Netz vor einer Vermischung der Rassen warnt. Und später behauptet, so etwas nie gepostet zu haben. Der „Tagesspiegel“ hat den Fall ausführlich dokumentiert.

Vielleicht ist Ballweg wirklich so naiv

Vor dem 29. August in Berlin hatte schließlich alles, was in der rechtsradikalen Szene Rang und Namen hat, aufgerufen, sich am Demonstrationsgeschehen zu beteiligen. Und seitdem ein paar Hundert Menschen, viele davon mit Reichsflaggen, an diesem Tag die Sicherheitsabsperrung vor dem bundesdeutschen Parlamentsgebäude durchbrachen, ist Ballweg dauer­präsent in der Medienlandschaft. In jedem Interview betont er brav: Diese Leute hätten mit seiner Bewegung nichts zu tun, „Querdenken“ distanziere sich von Rechts- und Linksextremismus, hier setze man auf Liebe und Frieden statt auf Hass und Gewalt. Indessen kursieren seit dem 5. September schon wieder Bilder von Pressesprecher Bergmann im Netz, die ihn im Gespräch mit einem Kader der rechtsextremen Identitären Bewegung zeigt. Die Unterhaltung soll Grundlage für ein Porträt im ebenfalls rechtsextremen „Compact“-Magazin sein, wie es direkt von der Quelle heißt. Ballweg aber billigt seinem Pressesprecher zu, eine private Meinung zu haben, auch wenn er mal mit ihm reden will, was da los ist, wie er sagt.

Da liegt der Verdacht nahe, dass die Distanzierung von rechts nur halbherzig ist. Allerdings mehren sich die Indizien, dass der „Querdenken“-Initiator tatsächlich aufrichtig unbedarft ist. Besonders deutlich wird seine Naivität im Gespräch mit Georg Restle von „Monitor“. Darin sagt Ballweg: „Wir lassen dieses Schubladendenken links-mitte-rechts jetzt erst einmal weg und reden über Inhalte und Personen. Ich darf nicht mehr mit Person X reden, weil die in der Presse diskreditiert wird.“ Das ärgert ihn. Als aber Moderator Restle auf problematische Aussagen des verurteilten Holocaustleugners Nicolai Nerling hinweist, mit dem sich Ballweg zum Grillen traf, und der als gern gesehener Gast auf den Demos von Pressesprecher Bergmann mit einer innigen Umarmung begrüßt wurde, zeigt sich der Querdenker-Chef irritiert.

In der Interviewsituation – er ist per Webcam zugeschaltet – fängt Ballweg an zu googeln. „Entschuldigung, das hat mich gerade so entsetzt. Also, dann kann ich’s ja sagen: Lieber Nico­lai Nerling, lass Dich auf unseren Demonstrationen nie mehr blicken. Du bekommst auch keinen Zugang mehr in unseren Pressebereich.“ Wie Ballweg selbst betont, war er bis vor wenigen Monaten noch völlig unpolitisch. Rechtes Denken zu identifizieren, fällt ihm offensichtlich schwer.

Dünnes politisches Programm

Bis vor wenigen Monaten wäre der mittelständische IT-Unternehmer Michael Ballweg wohl noch als perfekter Repräsentant der bürgerlichen Mitte durchgegangen: Der studierte Betriebswirt ist seit über 20 Jahren selbstständig, hat zwei erwachsene Kinder und zählt als Geschäftsmann ein paar große Namen zum Kundenkreis. Darunter etwa die Techniker Krankenkasse, die Huk-Coburg, Bosch und Thyssenkrupp, aber auch die Stadt Hamburg, die EnBW und die BW Bank.

Woher kommt also das Aufbegehren der „Querdenker“? Es fällt ins Auge, dass im sehr heterogenen Publikum, vom Batikshirt-Träger mit Friedenstaube bis zum Reichsflaggen schwenkenden Hooligan, auffällig viele Mittelständler vertreten sind. Ebenso bei den Redebeiträgen. Auf den Bühnen stehen frühere Polizisten und Bundeswehrsoldaten, Ärzte und Professoren. Dazu passt, dass die neue Partei „Wir2020“ um Dr. Bodo Schiffmann, die als parlamentarischer Arm der Bewegung in den Bundestag einziehen will, fordert, den „Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ zu stärken.

Bei vielen Demonstraten scheint es sich – wie ja beim Initiator selbst – um Menschen zu handeln, die erst durch die aktuellen Krisenerscheinungen politisiert wurden. Ein Übervertrauen in die Politik, diese Geschehnisse kontrollieren zu können, führt zu einer Personalisierung der Krisenursachen, eng verbunden mit der Vorstellung, man müsse nur die Schuldigen abwählen oder loswerden, um die Welt wieder ins Lot zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen zahlreiche „Querdenker“ und ihr Chef als Krypto­konformisten: Sie sind gerade keine fundamentalen Systemkritiker, sondern gehen so sehr von der prinzipiellen Funk­tionstüchtigkeit der alten und geschätzten Ordnung aus, dass auftretende Probleme nicht auf strukturelle Defizite, sondern konsequent auf individuelles Fehlverhalten zurückgeführt werden.

Wenn sich die gegenwärtigen Krisen­erscheinungen verschärfen, ist davon auszugehen, dass sich auch die Proteste zuspitzen werden. Vom Sündenbocksuchen werden in erster Linie populistische Kräfte profitieren. Im Sinne einer freiheitlichen Gesellschaft wäre es also erstrebenswert, den grassierenden Denkverkürzungen um harte Aufklärung bemühte Analysen gegenüberzustellen. Auf den „Querdenken“-Bühnen handelte es sich dabei bislang eher um Randerscheinungen.

Bezeichnend vage ist Michael Ballwegs bisheriges Programm. Im November will der politische Newcomer Stuttgarts nächster Oberbürgermeister werden. Dabei will er sich für die Grundreche einsetzen und verhindern, dass öffentliche Infrastruktur privatisiert wird. Gemessen an den Plänen seiner Kontrahenten ist das inhaltlich ein wenig dünn.

Eine Anfrage der Redaktion zu den Aktivitäten von Pressesprecher Bergmann und dem Wahlprogramm für Stuttgart blieb unbeantwortet.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen