piwik no script img

■ Von welcher Demokratie spricht Boris Jelzin?Der Krieg hat Moskau erreicht

Er habe den Krieg nicht gewollt, erklärte Boris Jelzin unter Tränen im Fernsehen. Er sei ihm von verbrecherischen Banden aufgezwungen worden. Der Staat müsse seine Macht einsetzen, um die Demokratie zu schützen. Ich glaube Boris Jelzin seine Tränen. Die Toten hat er nicht gewollt. Er möchte nicht als Zwingherr in die Geschichte eingehen. Aber von welcher Demokratie spricht er? Wie kann man eine Demokratie verteidigen, die es nicht gibt?

Einen Zustand der Doppelherrschaft gab es: Hier die administrative Hierarchie eines autokratisch regierenden Präsidenten, dort die Versammlungen der örtlichen, regionalen und des Obersten Sowjets, von Leuten, die ihre Privilegien verteidigen. Beide waren sie durch Wahlen legitimiert, die Sowjets eher stärker als der Präsidentenapparat, der außer dem gewählten Präsidenten nur aus persönlich kooptierten Seilschaften hervorging. Sie stammen zudem noch zu großen Teilen aus der alten Nomenklatura. Demokratische Basisstrukturen, ein entwickeltes Parteiwesen, das diese Bürokratie auch nur ansatzweise kontrollieren könnte, gibt es nicht.

Beide hatten sie schon lange das Vertrauen der Bevölkerung verloren: Die einen gelten als Jelzins Kreaturen, die anderen als Schwatzbuden, bestenfalls als Orte, an denen die neue Bürokratie Hand in Hand mit der alten – und in diesem Fall auch ununterscheidbar von der Administration – in die eigene Tasche privatisiert.

Kern des Problems sind aber nicht so sehr die räuberischen Praktiken im Zuge der Privatisierung, sondern ist vielmehr die Tatsache, daß die Privatisierung nur zur Hälfte in Gang gesetzt wurde. Privatisiert wurden Fabriken, Sowchosen, Geschäfte, Ferienanlagen, Häuser und dergleichen. Der Boden, auf dem sie sich befinden, ist jedoch bis heute Staatseigentum. Bis heute standen sich die Positionen unvereinbar gegenüber: Die Jelzinisten sind für eine Garantie des Privatbesitzes an Grund und Boden, die Sowjets sind mehrheitlich dagegen.

Dies ist auch der Kern des seit langem andauernden Verfassungskonflikts. Die alte Verfassung kennt keine Garantie von Eigentum an Grund und Boden. Ein Beschluß darüber aber würde nicht nur Umverteilungskämpfe zwischen den Bürgern und Bürgerinnen nach sich ziehen. Es würde auch die „föderalen Subjekte“, Moskau endgültig aufeinanderprallen lassen, weil dann auch die regionalen Nomenklaturen ihre Ansprüche geltend machen würden. Die Doppelherrschaft war eine stillschweigende Balance unausgetragener regionaler und sozialer Interessenkonflikte, aber keine Demokratie.

Weiter: Von welchem Schutz der Demokratie spricht Jelzin? Vor den blutigen Schießereien konnte man in westlichen Kommentaren zumindest noch die Formel vom vorweggenommenen Staatsstreich Jelzins finden. Heute wird nur noch von „gut organisiertem Putsch“ der national-kommunistischen Verbrecher gesprochen. Über Nacht wurde aus dem Staatsstreich der Exekutive ein von langer Hand vorbereiteter Putsch der Feinde der Demokratie.

Richtig ist, daß auf dem 2. Kongreß der „Nationalen Front“ sowie auf verschiedenen Versammlungen und in der Presse der national- kommunistischen Rechten spätestens seit Sommer des Jahres zur Bildung bewaffneter Widerstandsgruppen, zum Sturm auf die Regierung aufgefordert wurde. Ebenso stimmt, daß der Oberste Sowjet Kampfmaßnahmen für den Herbst angekündigt hatte. Seine immer weiter schmelzende Schar reduzierte sich auf Vertreter der extrem nationalistischen Strömungen. Frühere Parteigänger Alexander Ruzkois und Ruslan Chasbulatows aus dem rechten Zentrum wie der Industriellenführer Wolski oder der Populist Trawkin setzten sich von ihnen ab.

Dies alles ändert aber nichts an der Tatsache, daß Boris Jelzin mit seinem Dekret über die Auflösung des Obersten Sowjets den Dialog insgesamt aufkündigte. Er versucht nun, alle Kräfte zu kriminalisieren, mindesten aber als staatsfeindlich zu stigmatisieren, die mit der Auflösung des Obersten Sowjets nicht einverstanden waren. Das sind aber nicht nur ein paar national-kommunistische Splittergruppen, es ist die gesamte Palette der Opposition. Dazu gehören auch die Gewerkschaften mit ihrer Forderung nach „Reformen mit menschlichem Gesicht“. Es setzt sich fort in dem Versuch, auch die regionalen und örtlichen Sowjets aufzulösen. Das zielt auf die vollkommene Liquidierung der bisherigen Organe der Volksvertretung. Da es in der Russischen Föderation bisher keine anderen demokratischen Strukturen gibt, kann das auf die Ausschaltung jeglicher Opposition hinauslaufen.

Unter diesen Umständen bleiben die regionalen Verwaltungen, die im Föderationsrat zusammengefaßten sogenannten föderalen Subjekte, die einzigen Organe, in denen sich die oppositionellen Kräfte noch kristallisieren und die einen halbwegs demokratischen Ablauf der Wahlen organisieren könnten. Es gibt ja bisher kein gültiges Wahlgesetz, es ist kein Wahlmodus verbindlich festgelegt, viele Organisationen müssen sich, auch wenn Organisationsverbote jetzt gelockert werden, in langwierigen Prozeduren neu legalisieren lassen. Das alles schafft ungleiche Ausgangsbedingungen. Wenn Boris Jelzin sich jetzt statt auf den Föderationsrat nur noch auf den „Sicherheitsrat“, also die versammelten Chefs des Militärs, des KGB und der Innenministerien, stützen will, dann könnten die Wahlen leicht zur Farce werden.

Möglicherweise gelingt es Boris Jelzin sogar, die Lage kurzfristig zu stabilisieren. Die Bevölkerung wird zur Zeit nicht gegen ihn aufstehen. Nach dem Blutbad von Moskau setzen die Menschen noch mehr als vorher auf Ordnung.

Es bleibt die Frage: Was wird geschehen, wenn es Boris Jelzin tatsächlich gelingt, sein „Schockprogramm“ auf diese Weise in die zweite Runde zu führen? Der IWF verlangte erst kürzlich wieder drastische Subventionskürzungen. Der Besuch einer IWF-Expertenrunde ging der Auflösung des Obersten Sowjets durch Boris Jelzin unmittelbar voraus. Die nächste Runde wird die begonnenen Umverteilungskämpfe enorm verschärfen. Das wird die Teile der Bevölkerung, die ihn jetzt als kleineres Übel akzeptieren, über kurz oder lang gegen ihn aufbringen. Es ist klar, daß auch nach einer gewonnenen Wahl Jelzins Macht und Mittel nicht reichen, um diesen Widerstand friedlich aufzufangen.

Eine auch nur halbwegs demokratische Alternative könnte nur in der Wiederaufnahme des Dialogs bestehen. Das bedeutet das Abrücken von „Schocktherapien“ der Totalprivatisierung, die auf die Zerstörung der vorhandenen kollektiven Strukturen setzen, ohne Neues an deren Stelle aufbauen zu können. Es verlangt das Bemühen um Kompromisse, gemischte Formen der Wirtschaft, die Strategien des Übergangs zwischen kollektiven und privatwirtschaftlich organisierten Lebensformen beschreiben. All dies braucht Zeit. Eine nicht nur 70 Jahre lang, sondern schon Jahrhunderte davor gewachsene kollektivistische Grundstruktur dieses Raumes wird mehr als eine Generation brauchen, um zu neuen Formen der Lebensorganisation zu finden. Die Transformation läßt sich nicht befehlen, auch nicht unter Androhung von Gewalt. Jede Eile wird sich an der Weite des Raumes und in den die Struktur des Landes und die sozialökonomischen Verhältnisse selbst eingeschriebenen Realitäten brechen. Kai Ehlers

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen