Der Konzern und seine Stadt

aus Ludwigshafen KIRSTEN KÜPPERS

Knapp war es. Gerade noch vorbeigeschrammt ist Ludwigshafen an der ganz großen Katastrophe. Eva Lohse lässt den Blick schweifen aus dem Panoramafenster ihres Büros hoch oben im 15. Stock des Rathauses, über das schmutzige Dach des Einkaufszentrums hinweg, über das graue Parkhaus und den Containerfrachthafen auf der gegenüber liegenden Rheinseite, hinein in den farblosen Himmel.

Eva Lohse ist Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen und erst seit kurzem im Amt. Sie ist 46 Jahre alt und ihr Tweedkostüm wirkt elegant. Ein bisschen Stolz und Erleichterung sind ihr anzumerken, weil sie die vorläufige Rettung ihrer Stadt hinbekommen und den totalen Bankrott vermieden hat. „Wir sind erst mal froh über die Situation“, sagt sie.

Doch auch wenn der größte Schaden abgewendet ist – es steht schlimm um Ludwigshafen: Die rheinland-pfälzische Stadt ist immer noch pleite, ein gewaltiger Schuldenberg von einer halben Milliarde Euro türmt sich vor den 165.525 Einwohnern auf. Eine 36-seitige Sparliste arbeitet Eva Lohse gerade ab. Bekommt sie das Fiasko nicht in den Griff, setzt das Land einen Staatskommissar ein – das wäre das Ende von 150 Jahren kommunaler Selbstverwaltung in Ludwigshafen.

Auf der Straße sagen die Menschen einander, seit Kriegsende, seit hier kein Stein mehr auf dem anderen stand, sei es ihrer Stadt nicht so schlecht gegangen. Die Oberbürgermeisterin kann nichts dafür, sie ist erst seit Januar im Amt. Eva Lohse zupft an der randlosen Brille; sie ist trotzdem ein wenig nervös jetzt.

Die vorläufige Rettung

Das Elend hat einen einfachen Grund: Die BASF zahlt an ihrem Hauptsitz weniger Steuern als früher. Vergangenes Jahr sind die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt um ca. 103,7 Millionen Euro zurückgegangen, fast ein Drittel der Gesamteinnahmen. So hart hat es in Deutschland sonst kaum eine Stadt getroffen. 2002 drohte der Wegfall von weiteren 50 Millionen Euro, fast die Hälfte der erwarteten Gewerbesteuern.

Die vorläufige Rettung besteht darin, dass die Oberbürgermeisterin einen Kompromiss mit der BASF-Unternehmensleitung ausgehandelt hat. Danach reduziert sich der Verlust auf 10 Millionen Euro. Dafür senkt die Stadt jedoch den Steuersatz für die BASF noch einmal um 30 Punkte.

Eine Stadt am Gängelband der Industrie, denkt man also. Aber Eva Lohse sagt, dass sie sich nicht gegängelt fühlt. Nicht von der BASF, der mit 38.000 Beschäftigten größten Arbeitgeberin der Region. „Aber das muss ich Ihnen sagen, ich bin wütend auf die rot-grüne Bundesregierung, die solche Steuergesetze schafft.“ Das kommt nicht nur, weil Eva Lohse in der CDU ist. Es darf nicht sein, dass die Stadt, in der sie groß geworden ist, in der sie lebt in einem Haus mit einem Mann und zwei Töchtern, dass diese Stadt da draußen vor dem Fenster vor die Hunde geht. Die Stimme von Eva Lohse ist laut geworden.

Eine Etage tiefer sitzt noch einer, der sich aufregt. Wilhelm Zeiser, 52 Jahre alt, Kämmerer der Stadt und Mitglied der SPD, läuft auf dem grünen Teppich auf und ab. Schnell redet er sich warm, knöpft das Jackett auf. Das Ganze war ja abzusehen, bereits im Herbst, als das Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz im Wirtschaftsministerium beratschlagt wurde. Vor den entscheidenden Abstimmungen hat Zeiser damals angerufen in Berlin, gebrüllt hat er ins Telefon, getobt, die jungen Referenten am anderen Ende der Leitung angeschrien: „Wollt ihr uns das Genick brechen, um Himmels willen?“

Genützt hat es nichts. Am 20. Dezember ist das Gesetz verabschiedet worden, wonach Steuern auf die Gewinne von Tochtergesellschaften eines Unternehmens nur noch dann am Sitz der Muttergesellschaft fällig werden, wenn das gesondert vertraglich geregelt ist. Natürlich hatte die BASF zum damaligen Zeitpunkt keine solche Verträge mit ihren Tochterfirmen. Zeiser wusste, dass das Ruin bedeutet. „Wir haben unseren Leuten erst mal nichts gesagt“, murmelt er, „war ja Weihnachten.“

Wer die Vorgänge in Ludwigshafen verstehen will, muss um das besondere Verhältnis der Bürger zu ihrer Chemiefabrik wissen. Die BASF ist mehr als nur ein weites Industriegelände am nördlichen Stadtrand, eine Ansammlung von Rohrleitungen, Destillationsmaschinen und Filteranlagen. Sie ist der Anfang von allem hier. Zuerst waren die Schornsteine, dann kamen die Häuser, jetzt ist die BASF überall: als Schwefelgeruch in der Luft, als gelber Schmierfilm auf dem Auto, als dunkler Schmutz, der beim Waschen aus den Haaren rinnt – das schafft eine Schicksalsgemeinschaft.

Wenn es dunkel ist, blinkt, dampft und leuchtet die Fabrik wie ein gewaltiges Tier mit roten Augen und einem pumpenden Herzen, das nie stillsteht, nachts nicht und an keinem Feiertag im Jahr. Manche Ludwigshafener nennen dieses Tier „die große Mutter“. Weil die Fabrik gesorgt hat für die Menschen, die sie verbraucht. Der alte Chef ist früher durch die Schrebergärten gezogen, heißt es, hat seine Arbeiter gefragt, „Wollt ihr noch was?“, hat Scheine rübergereicht für einen Zaun, ein Vereinshaus, neue Kaninchenställe. Und weil die Fabrik so schnell gewachsen ist wie sonst nur etwas in Amerika, baute man Siedlungen für die Belegschaft, eine Trambahn, um die Menschen zur Arbeit zu schaffen; und als das nicht ausreichte für das irrsinnige Wachstum, wurde Ende der 60er-Jahre noch ein kompliziertes Hochstraßensystem errichtet.

Die dickeren Aldi-Tüten

Wegen all des Betons, Drecks und Gestanks ist Ludwigshafen nicht hübsch genug, dass es für Tourismus reicht. Dafür waren die Tüten von Aldi hier immer dicker als anderswo. Und auch sonst hat man sich von allem ein bisschen mehr geleistet: 52 Schulen, 82 Kindergärten, 123 Sportanlagen, 31 Jugendhäuser, 47 Seniorenstätten, fünf renommierte Krankenhäuser, drei Hallenbäder, ein Museum für moderne Kunst, das weltgrößte Mosaikkunstwerk von Miró. Ludwigshafen hat Opernensembles aus aller Welt zu sich eingeladen, auch Michael Jackson war schon da. „Das Geld wurde mit beiden Händen ausgegeben“, sagt Oberbürgermeisterin Lohse. Dank der BASF fuhr die Stadt 1989 die meisten Gewerbesteuereinnahmen in ganz Deutschland ein.

13 Jahre später ist Ludwigshafen schwer angeschlagen. 20.000 Arbeitsplätze hat die BASF inzwischen abgebaut. Aufgrund der Wirtschaftsflaute und zu geringer Rücklagen hat sich die Verschuldung der Stadt verfünffacht. Den Aktionären der BASF überall auf der Welt ist es egal, dass die vielen Hochstraßen und Schulen in Ludwigshafen dringend saniert werden müssen. Und dann dieses verheerende neue Gesetz! Kämmerer Zeiser ist außer sich vor Wut.

Sie haben sich dann auf dem BASF-Gelände zusammengesetzt: er, die Oberbürgermeisterin, der Standortleiter und die Steuerexperten des Unternehmens, der Parkplatz voll mit großen Autos. Sie haben verhandelt. Die Leute von der BASF haben gesagt, wir sind kein Wohltätigkeitsverein, wir müssen die Interessen unserer Aktionäre vertreten. Kämmerer Zeiser hat sie angebrüllt: „Hört zu, ihr führt Gäste aus China, Mexiko und sonst woher durch die Stadt. Sollen die sehen, wie hier das Gras hochschießt, die Straßen gesperrt sind und die Brücken kaputt?“

Rausgekommen ist ein Kompromiss, bei dem sich alle ein bisschen feiern können. Die BASF schließt die nötigen Verträge ab und zahlt die Gewerbesteuer weiterhin in Ludwigshafen statt am Sitz der Tochterfirmen. Die Stadt senkt dafür den Steuersatz auf das niedrigere Niveau dieser Standorte, damit der Chemiekonzern bei dem Geschäft keine Verluste macht. Heute wird die BASF-Hauptversammlung über diese Lösung entscheiden. Es gilt als sicher, dass der Kompromiss bei den Aktionären durchgeht.

Jetzt, wo die größte Katastrophe abgewendet ist, die große Mutter doch noch mal geholfen hat, muss Oberbürgermeisterin Lohse zusehen, wie sie mit dem restlichen Elend fertig wird. Sie geht an ihrem Schreibtisch die lange Liste durch, 30 Millionen Euro will sie einsparen. Ein Stockwerk tiefer packt Kämmerer Zeiser die Stadtpläne aus, vor denen alle Angst haben. Da, wo die grünen Punkte sich klumpen, gibt es zu viele Kindergärten.

Ein Hallenbad und eine Jugendfreizeitstätte haben sie im Januar bereits geschlossen, der Bücherbus wurde abgeschafft, frei werdende Stellen werden nicht neu besetzt, zwei Bibliothekarinnen stecken schon in Umschulungsmaßnahmen, Zuschüsse zu Sport- und Karnevalsvereinen wurden gekürzt, das Off-Kulturzentrum bekommt keine Gelder für die Sanierung, Opern werden erst mal nicht mehr in die Stadt geholt. „Wir sind in einem tiefen Tal“, erklärt Zeiser. Ein trauriger Satz, in dem viel Wahrheit steckt.

Ludwigshafen hat jetzt einen sehr niedrigen Gewerbesteuersatz, niedriger als andere Chemie-städte wie Leverkusen oder Frankfurt-Höchst. „Das könnte neue Unternehmen hierher locken“, sagt Eva Lohse. Worauf soll sie auch sonst hoffen?

Eine Etage tiefer hat sich Kämmerer Zeiser wieder hingesetzt, die Aktenordner im Rücken, vor sich eine Thermoskanne Kaffee; die Beruhigung kommt, wenn er ins Land hineinguckt. Ludwigshafen ist nicht die einzige deutsche Stadt, der es mit der Steuerreform aus Berlin schlecht geht.

Das ist schon ein Trost. Und die Kämmererkollegen von anderswo haben nicht das Glück, den größten Chemiekonzern der Welt bei sich sitzen zu haben, die wären ja froh, meint Zeiser. Denn wenn es mit der Wirtschaft wieder aufwärts geht, wenn die BASF wieder satte Gewinne einfährt, dann könnte sich seine Kasse wieder füllen. In dieser Stadt hat man seit je auf die Fabrik vertraut. „Wir haben die BASF. Wir werden nicht untergehen.“ So optimistisch sind sie jetzt wieder in Ludwigshafen.