: Der Klassenfeind reichte Schnaps und Zigaretten
Mit dem Schlauchboot über die Ostsee: In der Gedenkstätte Berliner Mauer sprachen die Musiker Eberhard Klunker und Dietrich Kessler über Rockmusik zu DDR-Zeiten und Wege in den Westen
Von Robert Mießner
12. September 1975, Dahme, Schleswig-Holstein: Die Spätsommer-Gäste an der Lübecker Bucht werden nicht schlecht gestaunt haben, als ein Schlauchboot mit zwei Mann Besatzung auf den Strand zuhielt. Das Bootsmodell war kein geläufiges und sollte sich als aus tschechischer Produktion herausstellen. Dem Ruderer bluteten die Hände, er und der Navigator waren am Ende.
Die ihnen Trainingsanzüge, Schnaps und Zigaretten reichten, wussten in dem Moment nicht, dass sie zwei Musiker aus der DDR vor sich hatten: Eberhard Klunker, Gitarre, und Olaf Wegener, Schlagzeug, haben noch im Mai in den Ostberliner Nalepa-Studios mit der Hansi Biebl Band fünf Bluesrock-Stücke aufgenommen. Eigentlich sollten sie an diesem Morgen auf Tour gehen. Stattdessen landeten sie beim Klassenfeind, der sich als freundlich und hilfsbereit entpuppte.
Ein halbes Jahrhundert später kann Klunker darüber im Plauderton erzählen. Er, sein Kollege Dietrich Kessler und Moderator Hartmut Rüffert, Kenner der DDR-Rockmusik, bestreiten den Dienstagabend in der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Der Beton- und Roststahlbau liegt zwei Handvoll Wegminuten vom BND-Komplex an der Chausseestraße.
Das Ambiente und die Beleuchtung lassen eher an das Wartezimmer des Jobcenters denn eine Rockbühne denken. In der Pause wird Mineralwasser gereicht werden. Klunker erinnert sich, was ihn und Wegener aus der DDR getrieben hat. Immerhin war er mit dabei, als die Klaus Lenz Modern Soul Big Band 1973 im Hygienemuseum Dresden eine der besten Platten des staatlichen DDR-Labels Amiga live eingespielt hatte. Modern Soul, der Name war Programm.
Es half nichts, Klunker konnte und wollte nicht in den DDR-Betrieb, der über das Fabriktor hinausging, passen. Als Spatensoldat hatte der Wehrdienstverweigerer einer anständigen Karriere bereits ein Grab geschaufelt. Die Idee zu der lebensgefährlichen Flucht über das Meer war ihm und Wegener gekommen, als sie auf einer Bootstour über den Zeesener See in Turbulenzen geraten waren.
Wenn wir das überstehen, schaffen wir noch mehr, hatten sie sich in jugendlichem Überschwang gesagt. Dass die Ostsee zwar ein Binnenmeer, aber kein Brandenburger Binnensee ist, sollten sie herausfinden. Sie haben es geschafft, viele andere nicht, betont Eberhard Klunker.
Der ihm die Haftuniform verpasste, hatte auf der Ostsee die Tochter verloren, erinnert sich Dietrich Kessler. Der Saxofonist und Komponist hatte 20 Monate in der DDR gesessen, bevor er von der Bundesrepublik freigekauft wurde. Seine Hardrock-Band Magdeburg hatte kollektiv einen Ausreiseantrag gestellt. Vier Singles und ein Album konnten den Nervenkrieg mit den Behörden nicht aufwiegen.
Der Name Magdeburg war ein zähneknirschendes Zugeständnis: Eigentlich hatte Kesslers Band Klosterbrüder geheißen. In dem Grundlagenwerk „Beat in der Grauzone“ verortet der Rockhistoriker Michael Rauhut sie, die in Mönchskutten auftraten und deren Sänger schon mal einem Sarg entsprang, „zwischen artifizieller Wertarbeit und urwüchsiger Kraft“. Die gibt es, als Kessler und Klunker, bis heute als Musiker aktiv, selbst zu den Instrumenten greifen und Bob Dylans „All Along The Watchtower“ spielen, in der Version mit dem freidrehenden Mittelteil von Jimi Hendrix.
Die 1975er Aufnahmen von Eberhard Klunker und Olaf Wegener mit der Hansi Biebl Band wurden nach der spektakulären Ostseeflucht ins Archiv verbannt. 2009 sind sie auf LP erschienen. Dietrich Kessler hat sein DDR-Kapitel in dem Band „Stasi-Knast“ aufgeschrieben und ist Verleger geworden. Ein Stück noch auf der Akustikgitarre und dem Saxofon, dann kommt Wein auf den Tisch.
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