■ Der Keynesianismus nützt nichts mehr gegen die Krise. Auch wenn einige Linke noch nostalgisch darauf hoffen: Das Ende der Wirtschaftspolitik
Immerhin, die ersten Fensterscheiben klirrten: in der Bonner FDP-Zentrale und auf den Großbaustellen für die Pyramiden der „Berliner Republik“. Aber es ist kein emanzipatorischer Zorn, der sich da Luft macht. „Wir wollen Arbeit“, heißt die Parole von Menschen, die nichts lieber tun als Pyramiden bauen. Die Bauarbeiter wollen deutsche Arbeit für deutsche Pyramiden, und die Bergleute möchten weiter nationalökonomisch subventioniert werden. Zutiefst berechtigt ist das Verlangen nach Existenzsicherung, aber in der Form der Lohnarbeit führt sich heute die Gerechtigkeit selber ad absurdum.
Daß alle denkbaren Maßnahmen nur in immer neue Paradoxien führen, deutet auf die Paralyse jeder Wirtschaftspolitik überhaupt hin. Das moderne Marktsystem einmal vorausgesetzt, gilt das als die Stunde des Liberalismus. Denn dessen Wirtschaftspolitik ist es, keine zu haben. Abgesehen von der Sicherung der formalen Rahmenbedingungen soll die „unsichtbare Hand“ der blinden Marktkräfte frei zuschlagen dürfen. Das Versprechen, daß dies zum „allgemeinen Wohlstand“ führen werde, war schon immer ohne Gewähr. Seit dem 18. Jahrhundert pochte der Liberalismus darauf, daß die gesellschaftliche Mechanik der Märkte im Guten wie im Bösen eine unabänderliche Naturgesetzlichkeit darstelle. Wenn Massen sozial nicht mehr integrierbar sind, bedeutet dies aus liberaler Sicht nicht, daß das Marktsystem obsolet wird, sondern daß die betroffenen Menschen obsolet werden. Dies entspreche dem „Bevölkerungsgesetz“ von Thomas R. Malthus [britischer Nationalökonom im 19. Jahrhundert; A.d.R.]: „Die Natur selbst“, so dessen Konsequenz, befehle den „Überflüssigen“, sich von der Erde zu trollen.
Da der Liberalismus die europäischen Marktgesellschaften schon im 19. Jahrhundert an den Rand des Bürgerkriegs zu führen drohte, entstanden unter konservativer und sozialdemokratischer Ägide Elemente einer paternalistischen staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dabei setzten freilich selbst die radikalsten Sozialisten immer schon eine „Arbeitsgesellschaft“ für den verinnerlichten Selbstzweck der Geldverwertung voraus: Die sozial entmündigten Massen sollten ausreichend „beschäftigt“ werden, um die Maschine des (freien oder geplanten) Marktes am Laufen zu halten. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise kippte Keynes das liberale Dogma auch in der offiziellen Volkswirtschaftslehre: Durch makroökonomische Steuerung und staatliches Deficit spending sollte die Krise gebannt werden.
Tatsächlich haben auf eine prekäre Weise beide recht, der Liberalismus ebenso wie der Keynesianismus. Ein derart hybrides und an sich instabiles System wie eine totale Marktwirtschaft kann nur existieren, solange die euphemistisch als „Selbstheilungskraft“ bezeichnete Erschließung immer neuer Felder für die Verwurstung von Arbeitskraft gelingt und gleichzeitig durch massive Staatseingriffe gestützt wird. Das „Wirtschaftswunder“ war nur möglich durch eine Kombination von neuen arbeitsintensiven Industrien (Autos, Haushalts- und Unterhaltungselektronik) mit permanentem staatlichem Deficit spending.
Seit Anfang der 80er Jahre haben sich beide Elemente eines tragfähigen Marktsystems erschöpft. Die mikroelektronische Revolution höhlt nicht nur die industrielle Reproduktion, sondern die „Arbeitsgesellschaft“ überhaupt aus. Die rentable Anwendung von Arbeitskraft erlischt weltweit unter dem Rationalisierungsdruck schneller, als neue Verwertungsfelder erschlossen werden, während das Deficit spending an den absoluten Grenzen der Staatsverschuldung scheitert. Der reihenweise Zusammenbruch ganzer Nationalökonomien an der kapitalistischen Peripherie, vor allem das Ende der staatssozialistischen Varianten „nachholender Modernisierung“, wurde als Warnsignal völlig mißdeutet, nämlich zum „Sieg“ des selber schon dahinsiechenden westlichen Kernsystems erklärt: 1989 waren plötzlich alle offen oder klammheimlich Liberale, bis tief in die Linke hinein.
Wie vorauszusehen, konnte die Deregulierungs- und Privatisierungswut des triumphierenden Neoliberalismus die globale Krise nur beschleunigen. Die Verschuldungslawine von Staaten, Unternehmen und Privaten wurde nicht gebremst, sondern verstärkt; und die betriebswirtschaftliche Globalisierung des Kapitals zwingt die Staaten zum selbstzerstörerischen Wettlauf eines Sozial-, Öko- und Steuerdumping. Gleichzeitig strömt das nicht mehr rentabel in Realinvestitionen anlegbare Kapital auf die spekulativen Finanzmärkte: In einer komplementären Bewegung heben die fiktiv gesteigerten Aktienwerte ab, und die globale strukturelle Massenarbeitslosigkeit schwillt von Zyklus zu Zyklus an.
Jetzt wäre die Erneuerung utopischer Energien gefragt, um den Modernisierungsroboter zum Stehen zu bringen und die mikroelektronischen Produktivkräfte für eine autonome Reproduktion jenseits von Markt und Staat umzuwidmen, die marktwirtschaftlich brachliegenden Ressourcen emanzipatorisch anzueignen und die kapitalistische Globalisierung durch eine transnationale Vernetzung sozialer Gegenbewegung zu konterkarieren. Aber eine Linke, die sich auf marktwirtschaftlichen „Realismus“ vergattern ließ, blamiert sich lieber durch eine ebenso verzweifelte wie haltlose keynesianische Nostalgie. Es mag ja gut gemeint sein, wenn Pierre Bourdieu in Frankreich neue soziale Ideen fordert, aber sein Vorschlag einer „Rettung der keynesianischen Zivilisation“ ist wie Joschka Fischers Beschwörung des „rheinischen Kapitalismus“ weder neu noch eine Idee.
Realistisch ist die Hoffnung auf eine neue marktkonforme Wirtschaftspolitik nur als Option einer repressiven Notstandsverwaltung und selektiven sozialen Ausgrenzung. Bereits jetzt gibt sich die keynesianische Nostalgie teilweise offen sozialnationalistisch. Wenn Bonn den einschlägig revoltierenden Bauarbeitern und Bergleuten keynesianische Konzessionen macht, dann wird dies postwendend eine liberale soziale Restriktion anderswo zur Folge haben. Auf dem Boden des auseinanderfallenden Systems von Markt und Staat kann jede beliebige Regierung nur noch die Verlaufsformen der Entsolidarisierung akzentuieren. Von wegen „sozialökologischer Umbau“. Das waren Schönwetterphantasien. Alle, die 1989 einen Schritt in Richtung Liberalismus gemacht haben, müssen heute den nächsten Schritt in Richtung Malthusianismus tun. Robert Kurz
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