: Der Kennedy-Mythos
■ Wer hat sich gegen Amerika verschworen?
Der Kennedy-Mythos Wer hat sich gegen Amerika verschworen?
A girl namend Jackie“ hieß die Fernsehserie, die diesen Herbst über Amerikas Bildschirme flimmerte. Auch in dem anderen großen Drama, das im Oktober die Nation fesselte, spielte ein Kennedy eine wenn auch schweigende Rolle: Während der Anhörung, die Anita Hills Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen den nominierten Bundesrichter Clarence Thomas klären sollte, fiel Ted Kennedy durch beharrliches Schweigen auf. Er selbst ist in einen Skandal verwickelt: Einer seiner Neffen steht in Florida wegen sexueller Nötigung vor Gericht. Die Familie Kennedy scheint ein unerschöpflicher Stoff zu sein. Man sollte meinen, nach all den Enthüllungen über John F. und nach all den Skandalen und Skandälchen, in die Mitglieder der weitverzweigten Familie verwickelt sind, hätte diese Dynastie ihren letzten Glanz und das Publikum sein Interesse verloren. Das „debunking“, die Demontage, zehre selbst von der Größe dessen, was da entzaubert werden solle, schrieb Theodor W. Adorno. Keine Enthüllung, keine weitere Aufdeckung von Skandalen wird je den Mythos Kennedy zerstören. Die Kehrseite des Bildersturzes ist der anhaltende Versuch, die Akten über den Mordfall Kennedy erneut zu öffnen, um die Verschwörung aufzudecken, die den strahlenden jungen Präsidenten und damit das gute Amerika zerstörte. Gerade fand in Dallas die Tagung aller Kennedy-Mord-Forscher statt und im Dezember wird der Oliver-Stone-Film über Kennedy in den amerikanischen Kinos gezeigt werden. Kennedy und sein Vize Lyndon B. Johnson verkörperten die disparaten und widersprüchlichen Elemente Amerikas: das reiche Neuengland und den armen Südwesten; den Intellektualismus europäischer Prägung und die Tradition des Pioniers; den König, den sich Amerikas heimliche Sehnsucht nach einem Hof in Gestalt der starken Stellung des Präsidenten bescherte, und den Cowboy, dem Regierung und Zentralstaat grundsätzlich suspekt sind. Zusammen bildeten sie ein Rittergespann für das Gute in Amerika.
Mit dem Mord an Kennedy ging es in Amerika bergab. Der Vietnamkrieg zerstörte Johnsons „Great Society“, Nixon erwies sich als mieser kleiner Einbrecher, Carter bescherte dem Land die Schmach der iranischen Geiselnahme, und für die Reagan-Party wird jetzt die Rechnung präsentiert: leere Staatskassen, verrottete Infrastruktur, heruntergekommenes Schulwesen. Im Weißen Haus herrscht heute der ehemalige Direktor des CIA.
Die Geschichte der USA der letzten 30 Jahre ist natürlich nicht geradlinig verlaufen. Amerikas Faszination mit dem Mythos Kennedy aber ist Ausdruck der Sehnsucht nach einfachen Entwicklungslinien und letztlich eine Art Kulturkritik. Kennedy und Johnson, das ist das gute alte Amerika. Das Amerika, wie es sein soll. Was nur hat sich gegen Amerika verschworen, daß es heute nicht mehr so ist? Reed Stillwater
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