„Der Kanzler stört mich überhaupt nicht“

Das beliebte Kulturzelt Tempodrom im Tiergarten soll dem Kanzleramt weichen. Der Chefin, Irene Moessinger, ist die Räumungsklage schnuppe. Sie kämpft seit 18 Jahren um die Existenz ihres Zirkus und hat ihn jetzt zum gallischen Dorf aufgerüstet. Ein Portrait  ■ von Rolf Lautenschläger

Heute fühlt sie sich gerade etwas melancholisch. Ihr einäugiger Hund ist beim Spazierengehen in jede Menge Glasscherben getapst und „fast verblutet“. Dann hat das Tier ihr die Klamotten ruiniert, sie muß sich zu allem Übel umziehen. Und weil kein Unglück allein kommt, fällt ihr noch ein, daß sie in dieser Woche wieder ein Jahr älter wird. „Immer wenn mein Geburtstag näherrückt, beschleicht mich ein Gefühl, wie es weitergeht. So im allgemeinen.“

Denn im besonderen werfen die Baustellen des Regierungsviertels bedrohliche Schatten auf ihre beiden Zirkuszelte. Wegen des neuen Bundeskanzleramts in ihrer Nachbarschaft steht dem wohl bekanntesten alternativen Berliner Kulturstandort im Tiergarten jetzt die Räumung bevor. Ist das nicht zum Heulen?

Im Gegenteil. Irene Moessinger, Chefin des Berliner Kulturzelts „Tempodrom“, fühlt sich noch lange nicht alt und melancholisch nur an ganz wenigen von 365 Tagen. Seit 18 Jahren sitzt sie „angepowert“ in ihrem plüschigen Zirkuswagen, der als Büro und zweites Zuhause der Kulturmacherin dient, und „macht verrückte Sachen“. Das Tempodrom, in dessen Zelten Jazz, Kabarett, Theater, Rock und Pop, Performances und besonders das Weltmusik-Festival „Heimatklänge“ jährlich über 100.000 Besucher anziehen, managt sie mit „Abenteuerlust“ und einem Schuß tibetanischer Ausgeglichenheit, die ihr der Dalai Lama vermacht hat.

Ihre roten Haare sind strubbelig geblieben, das lustige Lachen und die rauhe Stimme ebenso und aus den Augen blitzt die freche Göre. Wenn Irene Moessinger einmal die Brille auf die Nase setzt, erinnert das mehr an Verkleidung als an Seriösität und Alter. Irene Moessinger gibt sich nach wie vor „kreativ total daneben“ – so wie bei einer Sendung des SFB, als ihr vor laufender Kamera der Stiftzahn herausfiel, den sie ohne Zögern wieder einsetzte.

Jetzt hat sie sich wieder so einen Witz ausgedacht, „typisch tempodrommäßig“. „Alarm! Die spinnen, die Bonner“, ist rund um das Tempodrom plakatiert. Zäune wurden hochgezogen und bemalt. „Wir sind vom Neubau des Kanzleramtes umzingelt wie das Dorf von Asterix und Obelix durch die Römer. Um dem Bonner Imperium zu trotzen, das uns hier verdrängen will, haben wir das Tempodrom in ein gallisches Widerstandsnest verwandelt“, erklärt Moessinger lachend.

Kunstaktionen, Theater- und Musikveranstaltungen „und natürlich Zaubertrank“ sollen helfen, den Kampf gegen den „übermächtigen Gegner“ zu bestehen. „Wir haben auf Angriffe oder Probleme immer lustvoll und mit Phantasie reagiert. Jammern bringt nichts“, sagt die Tempodrom-Chefin. Als der zehn Quadratmeter große Zirkuswagen hoppelt, weil draußen wieder schwere Laster vorbeidonnern, meckert sie: „So geht das jetzt seit über einem Jahr. Unter den Bedingungen machen wir Programm.“ Die spinnen, die Bonner.

Weil Irene Moessinger seit Jahren weiß, daß der Kanzler neben dem Tempodrom im Tiergarten baut und das Zelt aus Sicherheitsgründen weichen muß, hat sie sich bereits 1993 nach dem neuen Standort auf dem brachliegenden Gelände am Anhalter Bahnhof in Kreuzberg gestreckt. Mit großer Zähigkeit, für die Moessinger bekannt ist, besorgte sie sich dafür eine Baugenehmigung, und mit anarchischer Phantasie plante sie mit Architekten einen neuen innovativen Zeltbau, der fest gebaut und ökologisch werden soll. 1997 war der Baubeginn anvisiert. „Aber wie man sehen kann, sitzen wir jetzt immer noch hier“, ärgert sich die Kulturfrau. Denn der Bund rückt nicht die gewünschte Entschädigungssumme von 8 Millionen Mark für den Umzug von Tiergarten nach Kreuzberg heraus, die als Teilfinanzierung des Neubaus nötig wären.

Vielmehr droht er darüber hinaus noch mit der Räumung. „Wir werden uns vor Gericht streiten, und die werden sehen, wie weit sie kommen“, meint Moessinger. „Ich fühle mich hier wohl. Der Kanzler stört uns nicht. Notfalls spielen wir auch den ganzen Winter durch.“

Man nimmt der Tempodrom- Chefin nur halb ab, daß sie im lauschigen Tiergarten verharren will. Denn Moessinger findet den politischen und kulturellen Wandel in der Hauptstadt nicht nur spannend. Er entspricht ihrem Lebensprinzip. „Ich halte nicht ängstlich an alten Strukturen fest. Bewegungen und Veränderungen interessieren mich viel mehr. Deshalb wird auch das Neue Tempodrom nicht mehr das alte sein. Die Form des Zeltes nehmen wir mit. Aber der alte Charme bleibt zurück. Am Anhalter Bahnhof entsteht neuer Charme. Das ist wie mit Beziehungen, die alte geht kaputt, es entsteht eine neue. Es ist traurig, wenn etwas stirbt, dafür kriegt man aber etwas anderes.“ Daß dies manche nicht kapieren, will ihr nicht „in den Kopp“. Menschen, die sich Veränderungen verschließen, sind Moessinger fremd.

Mit dem Kopf ist sie ziemlich oft durch die Wand, aber mehr noch – schlau, wie sie ist – darum herumgegangen. Angefangen hatte alles mit „dem großen Erbe 1973“. Der Vater, zu dem die gelernte Krankenschwester Irene keinen Kontakt mehr hatte, hinterließ ihr 800.000 Mark. Moessinger: „Ich war damals jung, wohnte in einer Kommune mit 70 Leuten und habe sehr bescheiden gelebt. Ich wollte überhaupt nicht soviel Geld und war damals sehr politisch. Eine Millionenerbin in Deutschlands erstem besetzten Haus, dem Kreuzberger ,Rauch-Haus‘, nein, das paßte nicht.“

Nachdem ein paar Tausender weg waren, erfüllte sich Moessinger 1980 einen Traum. Mit dem Geld kaufte sie sich ein Zirkuszelt, baute es auf dem staubigen Potsdamer Platz auf – und die Berliner strömten samt ihren westdeutschen Freuden ins neue Tempodrom. Nur Geld für die linke, lustige Chefin, die mit Schwein „Oskar“ selbst in die Manege stieg, fiel nicht ab. 1981 war Moessinger pleite, und nur durch Spenden konnte das Zelt erhalten werden. 1983 mußte das Tempodrom geschlossen werden, weil eine Fliegerbombe unter dem Zelt entdeckt wurde. 1984 zogen Moessinger und ihr Zelt vom Potsdamer Platz an den jetzigen Standort an der Kongreßhalle im Tiergarten.

Die finanziellen Probleme des Tempodroms sind Legion, heute lacht Moessinger über die Aufgeregtheit der Anwohner über den stinkenden Elefantenmist sowie angedrohte Zwangsschließungen und freut sich über die wunderbaren Programme zwischen Off und Mainstream: Moessinger holte sich Stars wie Udo Lindenberg, Nina Hagen oder John Lee Hooker, Rio Reiser und Eddi Constantine auf ihre Bühne. „Stars sind aber ebenso die kleinen Gruppen und Theater“, die „Details“, wie Moessinger das nennt.

„Das Tempodrom ist eine Institution“, sagt Moessinger zu Recht. Jährlich kommen rund 200.000 Besucher. Der Etat liegt bei rund sechs Millionen Mark. Etwas Geld hat die „Stiftung Tempodrom“ heute auf die Seite legen können. Zu den Mitgliedern des Förderkreises zählen der Kabarettist Arnulf Rating, aber auch Volker Hassemer, Berlin-Marketing-Chef, Matthias Kleinert von Daimler- Benz oder die Filmproduzentin Regina Ziegler – und vor allem Roland Specker, der die Geschäfte bei der Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne-Claude geführt hat. Specker, der auch die Bauleitung für das Neue Tempodrom übernehmen soll, nennt Irene Moessinger „einen Jeanne- Claude-Typ“ – was bedeutet: Vorsicht, in der Person steckt Durchsetzungsfähigkeit und Hartnäckigkeit.

„Ich werde das Neue Tempodrom bekommen, ob 2000 oder 2002, das ist egal“, sagt Moessinger. „Denn das Tempodrom gehört Berlin.“ Daß sie alles dafür tun wird, „für mich und meine 30 Mitarbeiter“, daran besteht kaum Zweifel. Nur eben dann, wenn die melancholischen Gefühle und kleine Fluchten kommen.

Dann kann sie sich auch noch ganz anderes vorstellen: sich in Bad Salza vom Solewasser treiben lassen und entspannen. Dort existiert bereits der neue Traum von Irene Moessinger – ein Liquidrom. „Da hörst du Musik unter Wasser, nimmst die Töne mit dem Körper auf und bist total relaxt.“ Vorerst bleibt das Zukunftsmusik. „Denn jetzt werde ich hier gebraucht.“ Weil die Bonner spinnen.