■ Der Jahreswechsel als Zeit der Besinnung:: Boris Becker und Sisyphos
So zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel wird der Mensch ganz, gaaanz besinnlisch. Da schaut er zurück und nach vorn und vor allem ganz, gaaanz tief in sich hinein. Da fragt er sich, der Mensch: Wer bin ich? Wo will ich hin? Ja, bin ich überhaupt? Dann kommen ihm ein paar Tränen und ein paar gute Gedanken, schwere, richtig philosophische, die in gute Vorsätze münden. Wie etwa: Weniger essen! Keine Zigarette mehr! Auto häufiger stehenlassen!
Und das geht nicht nur Hinz und Kunz so, sondern auch Boris Becker. Woran zu sehen ist, wie sehr Mensch auch der Star geblieben ist, so entrückt er bisweilen auch scheinen mag. Herr Becker also hat nun in der FAZ sein Innerstes ausgekippt, und so kennt man nun die Antworten auf Fragen wie: Was war? Was wird sein? Wobei den Ausführungen fairerweise eine gewisse pränatale Irritation zugute gehalten werden soll, denn: In Bälde wird der Tennisspieler Vater. Stichtag ist der 10. Januar, nur darf man das nicht sagen, weil Herr Becker eigentlich nicht mehr auf seinen Konkurrenten angesprochen werden will.
Was war? Neulich saß Herr Becker im „Schumann's“, und plötzlich setzt sich einer von diesen aufdringlichen Autogrammjägern an den Tisch, „ein Mann mit Brille“, und sprach: „Guten Tag, mein Name ist Günter Grass, ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten.“ Hat er gleich wieder was bei gelernt, der „Star des deutschen Sports“ (dito), hat ihm echt was gebracht. Grass nämlich erzählte die Geschichte vom Sisyphos, „der den Fels immer den Berg hochgerollt hat, obwohl er wußte, daß er wieder hinunterrollt, und der sagte: Das hält mich ja am Leben.“ Ah, da erkannt' er sich wieder! Zum Gipfel empor wollen und doch aus den Top ten kugeln, ist das nicht auch sein... – Schicksal?
Nun wächst mit der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit und – ja – Endlichkeit die Demut. Warum aber sagt Becker dann: „Ich bin erst 26 und werde mindestens 100.“ Hoffart, eitle Anmaßung? Nein, nein, „das kommt sehr aus meinem Bauch, aus meinem Gefühl“. Er ist nämlich „ein sehr spiritueller Mensch“, ganz im Gegensatz zu jenem nüchternen norddeutschen Exemplar, das nicht mehr erwähnt werden sollte. So eruptiv, so unberechenbar, so liebenswert!
Was wird sein? Die Vaterschaft als Break, als endgültiges – wie's der Spiegel uns drohte? Oh bitte, nicht das. Alleingelassen mit Charismatikern, die über Jahre dieselben Fragen mit denselben Antworten bedenken, wie jener, der nicht mehr erwähnt werden sollte – da wendet sich der Fan mit Grausen. Bleib uns erhalten, badisch-monegassischer Kosmopolit, mit dunkel-sphärischer Deutung von scheinbar banalem wie deinem kupferrotem Stoppelkopp: „So bewahre ich einen Lebensraum, in den kein Fremder hineinkommt.“ Ha, die Frisur als letztes Reservat der öffentlichen Person! Ein Satz, so anklagend, so entlarvend, so gefühlsecht. Wie wird das erst, wenn Sisyphos einhundert wird – und weise? Herr Thömmes
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