■ Normalzeit: Der Heimnachteil von Arbeitspolitik
„Wir brauchen mehr Existenzgründungen und freie Berufe“, so das Motto des Kongresses von Arbeitssenatorin Christine Bergmann und ihrer Kollegin Regine Hildebrandt – zur Forcierung der „neuen Selbständigkeit“. Beiden Politikerinnen kann ich stundenlang zuhören, insbesondere Ministerin Hildebrandt mit ihrer wunderbaren Mischung aus Detailwissen, Berlinismen und analytischer Schärfe. Diesmal ging es ihr um die Scheinselbständigkeit, zu deren Bekämpfung sie gerade einen Gesetzentwurf vorlegte. Mit der Deregulierung nimmt die Scheinselbständigkeit epidemische Ausmaße an. Ein West- Richter, Lösche vom Landessozialgericht, meinte jedoch, kein Gesetz sei besser als neue; auch mit dem von der Ministerin kritisierten Arbeitnehmerbegriff aus dem 19. Jahrhundert würden die Gerichte den „Mißbrauch“ – die Entstehung neuer „Weber“ – vernünftig bekämpfen können. Die Politiker sollten sich auf die Steuergesetzgebung konzentrieren.
Ich arbeitete zwölf Jahre scheinselbständig in der Landwirtschaft und im Güternahverkehr und hatte den Eindruck, die geschätzte Brandenburger Ministerin ließ trotz aller Kirchenbindung die radikale Konsumkritik aus den Sechzigern vermissen und steckt immer noch – als West- Kritikerin, mindestens als Ost- Populistin – in einer Art Aufholjagd: Schrankwand, Rundumversicherung, Kreditkarten, Advocard, Hi-Fi-Ausrüstung, Handy, Internetanschluß, Ehemann, Kinder, Datsche, neue Heizung, neues Auto, neue Küche (allein in Berlin gibt es über 500 Küchenstudios). Wer sich auf diese distinktiv-endlose Elendsspirale begibt, der wagt es natürlich nicht, an seinem Arbeitsplatz auch nur aufzumucken. Der muß also von Gesetzes wegen wenigstens einigermaßen geschützt werden – vor allzu brutaler Ausbeutung, die ihn tendenziell immer unter die Schwelle der Konsumfähigkeit zu drücken trachtet.
Dies ist zwar laut dem Spiegel- Soziologen Beck auch für das Kapital langfristig selbstmörderisch, aber vorderhand trifft es erst einmal den gemeinen Ostler, und dessen bester Vorkämpfer ist eben die Ministerin Hildebrandt. Für mich dagegen, der ich nicht ein gadget aus diesem ganzen Scheißhaufen besitze und das auch nicht bedaure, bedeutete die Scheinselbständigkeit (bis zur Gründung der Künstlersozialversicherung) eher ein weites Feld, um alle möglichen Arbeiten/Existenzweisen kennenzulernen. Daß meine Arbeitgeber dabei eine Menge Geld sparten, war mir nur recht, da es das Betriebsklima verbesserte, was mir weitere (intime) Kenntnisse bescherte. Die Arbeitssenatorin Christine Bergmann gab einen Überblick über die diversen Hilfen und Förderungen zur Unterstützung von „neuen Selbständigen“. Ihr Staatssekretär Peter Haupt ergänzte am Schluß, daß sie mittlerweile dabei sind, mehr und mehr „Selbständigen-Elemente“ fest anzustellen, ja, daß sie sogar versuchen, die Verwaltung „unsicher zu machen“, damit es zu mehr Selbständigkeit (über Outplacement/Outsourcing) komme.
In Berlin werden in diesem Jahr 8.000 Existenzgründungen von den Arbeitsämtern gefördert. 1995 waren es deutschlandweit 70.000: Der Anteil der Selbständigen an der Gesamterwerbsbevölkerung ist steigend. In Eberswalde gibt es schon ein EU- gefördertes Pilotprojekt, in dem ein Teil der Arbeitslosen als Unternehmer und ein anderer Teil als ihre zukünftigen Mitarbeiter ausgebildet werden. Bei all diesen Fördermaßnahmen schienen mir eher die neuen Existenzgründer die wahren Scheinselbständigen zu sein. Während ich in den nicht kranken- und rentenversicherten Jahren das Gefühl hatte, wirklich selbständig zu sein, habe ich erst jetzt, nach des Bundesfinanzministers Anziehen der Steuerschraube und der stagnierenden Einkünfte, das Gefühl, zunehmend scheinselbständiger zu werden. Das meint, daß der Zwang zunimmt, nur um des bloßen Geldes wegen irgendwelche Scheißaufträge anzunehmen, deren Spielräume auch noch immer enger werden. Helmut Höge
wird fortgesetzt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen