Der Hausbesuch: Dem Leben etwas zurückgeben
André Ritonnale und Mandy Barthel haben als Paar lange vergeblich versucht, Kinder zu kriegen. Sie wären fast daran zerbrochen. Dann kam Frieda.
Man müsse dem Leben etwas zurückgeben, sagt André Ritonnale – für ihn sind das Kinder.
Draußen: Es regnet, als André Ritonnale seine Tochter Frieda von der Kita abholt. Es ist ihre letzte Woche dort, nach den Sommerferien wird sie in die Vorschule gehen. Die Familie lebt im Hamburger Norden, rote Klinkerbauten prägen das Wohnviertel. Der ehemalige Arbeiterstadtteil Barmbek ist authentisch, ohne viel Chichi. Inzwischen ziehen immer mehr Studierende und junge Familien her. Bodenständig sind auch die Restaurants vor der Tür: Der Italiener an der Ecke, Döner und Falafel, ein Asiate.
Drinnen: Seit fast 20 Jahren leben André und Mandy Barthel in der Wohnung mit dem großen Balkon. Zum Glück, sagen sie, denn deshalb ist die Miete noch recht moderat. Schlafzimmer mit Arbeitsecke, Wohnzimmer, Kinderzimmer, ein bisschen eng ist es schon. In Friedas Kinderzimmer dominiert Pink. „Wir haben alles gegeben, aber man kommt nicht dagegen an“, sagt ihr Vater. Hinter dem Haus sind ein altes Kino und eine Tankstelle abgerissen worden, jetzt sollen dort Mehrfamilienhäuser entstehen. „All die Jahre hatten wir in der Küche diesen schönen Sonnenuntergang, das haben wir sehr genossen“, sagt sie. Und er sagt: „Unten steht schon wieder Sperrmüll. Daran merkt man, dass man älter wird, wenn einen so was stört.“ Da erwidert Frieda: „Ich bin zwar noch ein Kind, aber ich finde das auch nicht gut.“
Ihre Kindheit in der DDR: Mandy wird 1973 geboren und wächst mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder in Rostock auf. Für ostdeutsche Verhältnisse hätte es nicht normaler sein können, sagt sie, „Arbeiterklasse“. Die Eltern haben ein normales Gehalt, das ewige Vergleichen von heute, das habe es damals nicht gegeben. Sie ist viel ohne die Eltern unterwegs, in Ferienlagern und mit dem Sportverein. „Ich erinnere mich noch genau daran, wie schön das war, mit vielen Leuten abends am Lagerfeuer.“
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Ihre Sicht auf die DDR heute: „Dass wir nicht frei waren, wusste ich damals nicht. Auch nicht, in was für einer Tristesse wir eigentlich lebten“, sagt Mandy Barthel. Rückblickend habe man ihr in der DDR viel beigebracht, was sie nicht sein wollte: „Sei artig, tu, was dir gesagt wird. Ich habe wenig hinterfragt.“ Sie hat das Gefühl, „Wessis“ falle es noch heute leichter, für ihre Ziele zu kämpfen. „Weil sie früher gelernt haben, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ich bin immer noch konfliktscheu, da hat mich meine DDR-Kindheit geprägt.“
Die Wende: 1989 will sie gleich nach dem Fall der Mauer mit einer Freundin nach Hamburg. „Weiß der Fuchs, wie lange ich da in Rostock an der Bahn gestanden habe, es ging weder vor noch zurück.“ Die Freundin ist schon im Zug und schafft es, sie reinzuziehen, sie stehen die ganze Fahrt. Die Wandelhalle in Hamburger Hauptbahnhof – schon die Ankunft empfinden sie als Offenbarung: „Wir dachten einfach nur ‚Wow!‘. Alles war riesig, verglast, bunt und verspiegelt.“
Hamburg: Alles ist anders, aber anders schön. Mandy will bleiben. In Rostock macht sie eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau, danach findet sie 1994 einen Job in Hamburg. Ein Wermutstropfen: „Ich bereue es, dass ich damals nicht mehr aus meinem Leben gemacht habe, nach dem Abitur hätte ich gern studiert oder wäre ins Ausland gegangen. Ich kannte die Möglichkeiten nicht.“
Seine Kindheit in der BRD: Tangstedt, eine Gemeinde im Kreis Pinneberg, nicht weit von Hamburg. Und Hamburg ist damals für André Ritonnale die große, weite Welt. „Es war unfassbar langweilig in Tangstedt, ich wollte immer nur weg, raus aus der Provinz.“ Der Altersunterschied zu den drei jüngeren Geschwistern sei zu groß gewesen, um mit ihnen zu spielen. Wollte er Schulfreunde treffen, musste er oft kilometerweit radeln. „Heute denke ich trotzdem, dass es schön ist, auf dem Land aufzuwachsen.“ Sein Vater ist 1962 einer der ersten Gastarbeiter im Ort; ihm ist das Fremdsein unangenehm. Er will kein Exot sein, sondern so deutsch wie möglich. Deshalb wird zu Hause kein Italienisch gesprochen. „Italien, das fand bei uns zu Hause nur in der Küche statt.“
Der fremde Planet: Das Einzige, was bleibt, ist der Name, „Ritonnale, ich finde, das klingt toll.“ Bei Besuchen in Italien können er und seine Geschwister nicht mit der Verwandtschaft kommunizieren. „Nonna und Nonno konnte ich sagen, verstanden habe ich nichts. Das finde ich heute sehr schade.“ Sein Vater stammt aus der Etruskerhauptstadt Tarquinia. Vor der ersten Reise nach Italien dachte er, Italien sei ein anderer Planet. „Ich habe abends im Bett gelegen und fieberhaft überlegt, wie wir da wohl hinkommen.“
Sein Weg: „Erstaunlich viele meiner Klassenkameraden sind nicht mehr am Leben, Alkohol, Heroin, Autounfälle. So harmlos, wie man denkt, ist das Leben auf dem Dorf nicht.“ Vielleicht wäre es in der Stadt ähnlich gewesen. Seine eigene Schulkarriere ist bewegt: Vom Gymnasium wechselt er auf die Realschule, von dort auf die Hauptschule. „Endlich nicht mehr permanent überfordert zu sein, war ein Befreiungsschlag.“ Mit dreizehn dreht er in den Sommerferien einen Actionfilm auf Super 8 und leckt Blut: Er will zum Film. Später geht er auf die Fachoberschule für Gestaltung und Grafik.
Die Initialzündung: Das Studium für Medienbetriebstechnik bricht er dann doch ab und macht ein Praktikum bei Studio Hamburg. „Eine Initialzündung“, sagt er. Bei einer „Tatort“-Produktion ist er zweiter Kameraassistent. „Das war so ein geiler Sommer; für mich ging damals die Sonne auf.“ Von 1994 bis 2006 arbeitet er als Kameraassistent, ist oft monatelang am Stück weg. Für große Spielfilmproduktionen fliegt er in der Welt herum. Wegen Mandy will er später mehr zu Hause sein. Er übernimmt zunächst kleinere Kamerajobs in Hamburg und spezialisiert sich auf 3D-Effekte. Die Kleinteiligkeit fasziniert ihn. „Dafür, dass du dir das alles selbst beigebracht hast, einfach, weil du es wolltest, habe ich dich immer bewundert“, sagt Mandy Barthel.
Die Liebe: Es ist das Frühjahr 2000. Sie ist mit einer Freundin in der Disko. „Damals waren wir jedes Wochenende unterwegs.“ Ihre Freundin fragt sie, auf was für einen Typ Mann sie steht. „Und dann kam er rein, wie in Zeitlupe, wie im Film.“ Auf der Tanzfläche finden sich ihre Blicke, sie kommen ins Gespräch, trinken gemeinsam Kaffee, mitten in der Nacht. „Das fand ich damals besonders“, erinnert sie sich. Bevor ihre Freundin sie wegzerrt, schreiben sie schnell noch ihre Telefonnummern auf Zetteln vom Pizzaservice. Bald treffen sie sich wieder, bis 6 Uhr morgens liegen sie auf seinem Bett und reden. „Schon kurz nach dem ersten Treffen waren wir ein Paar, wir hatten keine Lust auf Spielchen.“
Der Wunsch: Sie sind nicht nur verliebt, sie haben auch die gleichen Vorstellungen von der Zukunft. Kinder gehören dazu. Doch es klappt nicht. Mehr als zehn Jahre lang versuchen sie, Eltern zu werden, ohne Erfolg. Die Ärzte finden keinen Grund. Das Warten, Hoffen und die Enttäuschung ist zermürbend, irgendwann steht die Beziehung auf der Kippe. Sex nach Plan, Hormone, Kinderwunschklinik. Und stets die Frage: Wie viele Schritte gehen wir noch? „Wir haben gesagt, das schaffen wir. Aber natürlich ist es schwer, wenn der Wunsch so stark ist. Da fragt man sich schon mal, liegt es am Partner?“, sagt sie. Freunde bekommen das dritte Kind, die deutlich jüngeren Geschwister werden Eltern. „Das hat wehgetan.“
Krise: Mit Mitte vierzig gerät er in eine Midlifecrisis. „Ich habe nicht an der Beziehung gezweifelt, sondern am Sinn des Daseins. Für mich war das immer mit einem Kind verwoben, ich dachte, man muss der Welt etwas zurückgeben. Arbeit und Urlaub, das kam mir zu wenig vor.“ Nach einer Entfremdung ruckeln sich die beiden wieder zusammen, sie wollen Frieden mit ihrer Kinderlosigkeit schließen.
Unverhofft: Er ist 48, sie 43, als sie plötzlich ein Ziehen in der Brust und Übelkeit verspürt. Sie denkt an die Menopause und weint. Trotzdem macht sie einen Schwangerschaftstest. Es ist der erste, der positiv ist. „Es war surreal.“ Einerseits wollen sie ihr Glück in die Welt hinausschreien, andererseits sind da auch Fragen: Wollen wir überhaupt noch? Schaffen wir es? Sind wir zu alt?
Frieda: Erst seit Frieda da ist, fühle er sich wirklich erwachsen, sagt er. „Sie gibt meinem Leben eine schöne, ausfüllende Ernsthaftigkeit.“ Da seien aber auch Ängste, sagt sie. Nicht mehr so lange durchzuhalten und für sie da sein zu können, das treibe sie um. „Dass sie noch kam, war Schicksal, künstlich hätte ich es nicht mehr versucht.“
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