: Der Große Durst
Auf der Landkarte ist ein Meter viel, aber durchaus noch überschaubar. Die Wirklichkeit ist weit schlimmer: Die Sahelzone erstreckt sich über sechstausend staubige Kilometer von der Westgrenze des Sudan bis zum Atlantik. Eine Reise mit einem Begleiter, der sich durch nichts vertreiben lässt
von PETER BÖHM
Ich konnte mich nicht erinnern, schon einmal durstig ins Bett gegangen zu sein. Hungrig schon. Aber durstig war mir neu. Doch von nun an sollte mir das öfter passieren. Ab der äthiopisch-sudanesischen Grenze wird die Landkarte weiß. Diese Farbe wird auf meiner Karte für die trockene, öde Steppe verwandt. In der linken unteren Ecke sieht man einen großen, grünen Fleck. Das ist der Regenwald des Kongo. Im Norden gibt es viele gelb schraffierte Gebiete. Das sind die Sandwüsten der Sahara. Und Äthiopien ist braun gescheckt, so werden auf meiner Karte Berge dargestellt. Aber genau ab der sudanesischen Grenzstadt Gallabat wird die Karte weiß. Von hier erstreckt sich eine mehr als einen Meter und in Wirklichkeit fast sechstausend Kilometer breite Ebene bis zum Blau des Atlantischen Ozeans: die Sahelzone.
Okay, man konnte sich schon denken, dass es dort ziemlich heiß sein würde. In März, April und Mai oft über 45 Grad im Schatten. Und die Luft ist staubtrocken. Manchmal hatte ich Nasenbluten, oft wochenlang Halsschmerzen. Meine frisch gewaschene, nicht ausgewrungene Hose, nach Sonnenuntergang draußen in Khartum aufgehängt, war in einer halben Stunde trocken. Na gut, es war also ziemlich heiß. Aber niemand hatte mich vor dem Großen Durst gewarnt, der einfach nicht zu löschen war.
Ich habe alles ausprobiert. In Gedaref, im Osten Sudans, goss ich Aradep darauf. Der eisgekühlte, schwarze Aufguss aus den bohnenförmigen Früchten des Tamarindenbaums schmeckt erfrischend sauer, und anfangs freute sich der Kellner in meinem Hotel auch noch, als ich ein paar Gläser hintereinander hinunterschüttete. Er muss gedacht haben: Mensch, dem schmeckt mein Aradep aber. Als ich jedoch nach einer Viertelstunde wiederkam, wurde er unruhig. Und bei der dritten Tränkung ein paar Minuten später bekam er sichtlich Angst und überließ das Servieren einem Kollegen. In Khartum habe ich den Kampf mit frischem Guavensaft und kohlensäurelosem Mineralwasser geführt. Vergebens. Und auf dem Weg zwischen Khartum und der tschadischen Hauptstadt N’Djamena gab es nur laues Wasser aus tönernen Krügen, warme Limonade oder trübe Brühe direkt aus Brunnen, aus der die Hirten ihre Kamele und Ziegen tränken.
Also setzte ich meine gesamte Hoffnung auf N’Djamena, wo es nach dem islamisch trockenen Sudan zum ersten Mal wieder Bier geben würde und damit ein Getränk, das in Deutschland seine Wirkung nie verfehlt hat: Gut gekühlter Gerstensaft, gemischt mit eiskalter Zitronenlimonade. Aber so werden Idole gestürzt. Ich gab mir abends zwei Liter davon, doch den Großen Durst wurde ich nicht los. Natürlich habe ich auch andere Sachen ausprobiert. Die Flüssigkeit im Mund zu behalten zum Beispiel und nicht gleich hinunterzuschlucken. Aber das nützte gar nichts. Ruck, zuck war das Nass so warm und fad wie mein Mund und seine erfrischende Wirkung dahin. Da war es noch besser, alles hinunterzustürzen, solange es noch frisch war.
Dann hat mir jemand geraten: Atme nur durch die Nase. Das war wirklich sehr schlau. Ich habe es ausprobiert. Ich trank trotzdem, bis mein Magen schmerzte, aber der Große Durst war einfach nicht zu besiegen. Ab Nigeria wurde es besser. Ab da konnte man an eigentlich jeder Straßenecke eisgekühltes, in Plastiksäckchen eingeschweißtes Trinkwasser kaufen.
Und so kam ich darauf, was ich tun musste, um es mit dem Großen Durst aufzunehmen. Am Morgen, am besten gleich nach dem Aufstehen, musste ich schon ein oder zwei Säckchen mit jeweils einem halben Liter hinunterstürzen und während des Tages immer gut nachfüllen. Wenn ich erst am Nachmittag oder am Abend, als ich mehr Zeit hatte, mit der Tränkung begann, konnte ich so viel in mich hineinlaufen lassen, wie ich wollte: Den Großen Durst wurde ich dann nicht mehr los.
Also gab ich mir morgens schon die Füllung, und bald erinnerte mich dieses morgendliche Ritual an die Einnahme einer Droge. Unmittelbar nachdem ich sie mir verabreicht hatte, fühlte ich mich unwohl. Mein Magen hatte sich vor Kälte zusammengekrampft, mir war ein bisschen schlecht, und es lief mir kalt den Rücken hinunter. Aber es musste sein. Ohne die Säckchen konnte ich nicht mehr leben. Ich war abhängig.
In N’Djamena, in Timbuktu und auf den Reisen zwischen den Städten schlief ich meistens im Freien. Die Mauern hatten sich während des Tages so aufgeheizt, dass man es drinnen nicht ausgehalten hätte. Dafür wurde man draußen auf dem Sand durchgebraten. Er hatte tagsüber so viel Sonne getankt, dass man sich trotz einer Bastmatte und der nächtlich kühlen Luft wie in einer riesigen, heißen Pfanne fühlte.
Es war eine schwere Zeit. Erst nach fast vier Monaten in Dakar, wo mir die Brise des Atlantischen Ozeans ein bisschen Linderung verschaffte, war der Große Durst vorbei. Und zwischendurch, als er am schlimmsten war, und ich Schwierigkeiten hatte, nachts einzuschlafen, musste ich einen alten Ratschlag aus meinem Gedächtnis hervorkramen, den ich für solche Fälle schon als Kind bekommen hatte: Stell dir etwas Schönes vor. Während des Großen Dursts war meine Lieblingsfantasie eine große, wirklich sehr große Flasche Mineralwasser, kurz über dem Gefrierpunkt, mit einer Spur Fruchtsaft darin und viel Kohlensäure, sodass das Getränk richtig fies auf meiner Zunge brannte.
Aber es musste eine Flasche sein. Da war ich kompromisslos. Aus Gläsern trank es sich zu leicht. Ich dagegen brauchte die Wassersäule, die noch über mir stand und mich mit großer Macht zu erdrücken drohte. Denn das war der schlimmste Moment am Großen Durst: wenn man schon wieder den Boden des Glases sah.
PETER BÖHM, geboren 1967, war von 1997 bis 2000 für die taz als Korrespondent in Nairobi. Derzeit lebt und arbeitet er als Korrespondent für Zentralasien in der usbekischen Hauptstadt Taschkent